×

Wir verwenden Cookies, um LingQ zu verbessern. Mit dem Besuch der Seite erklärst du dich einverstanden mit unseren Cookie-Richtlinien.


image

Youtube-Lektionen - April 2020, Jung und blind: Wie ist es, plötzlich blind zu sein? (Teil 1) || PULS Reportage

Jung und blind: Wie ist es, plötzlich blind zu sein? (Teil 1) || PULS Reportage

Ist Essen denn schwer?

Ja! Also bei Salat sind die Blätter so groß, man sieht's aber nicht.

Dann tut man sie sich schon in den Mund und es hängt dir dann zum Mund raus.

Piekt man sich da nicht manchmal ins Auge?

Ne, das spürst du ja!

Ich sehe, dass irgendso ein Typ dich die ganze Zeit sehr anguckt, sehr anlächelt.

Da kommt halt genau die Problematik ins Spiel, dass ich dann nicht mit den Augen flirten kann.

Busch, Brunnen, ihr seht mich, ich seh die Kamera und hier geht's rein.

Alles, was ich tue, ob privat oder beruflich, basiert darauf, dass ich sehen kann.

Aber was ist, wenn das irgendwann nicht mehr geht? Wenn du einfach blind wirst?

Ich treff heute ne Frau, bei der ist das so. Und soweit ich weiß, wohnt die hier im 2. Stock.

Hier sind schon mal Treppen, sieht ja gut aus. Die nehm ich mal.

Anna ist 30 und langsam durch eine Autoimmunkrankheit erblindet.

Seit einem Jahr kann sie nur noch hell und dunkel unterscheiden.

Ahh! Anna, da steht's, aber gleich hier mit Blindenschrift.

Ist ja schon mal gut. Das erste Mal, das ich das hier sehe.

Hallo Anna! - Hey! Hallo!

Mein Name ist Ariane und wir verbringen heute einen Tag zusammen, nicht wahr?

Ja, freut mich. - Ich mich auch. Bin ein bisschen aufgeregt.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie du das hinkriegst.

Ja, komm rein. Es ist sehr eng, also musst ein bisschen aufpassen.

- Aber ganz ordentlich! Das ist schon mal besser als bei mir.

Wie orientierst du dich denn? Sagen wir mal so:

Führ mich mal hier durch dein ganz kleines Reich.

- Dafür müssen wir kurz Plätze tauschen.

Also ich orientier mich schon ein bisschen am Türrahmen, um zu gucken, dass man nicht dagegen läuft.

Draußen macht man das natürlich mit Stock.

Dann würde ich jetzt hier auch so: bin ich jetzt am Ende des Ganges?

Hier haben wir halt Kleiderschrank und Garderobe...

- Wahnsinn! Du kannst ja ganz zielsicher sagen: "Hier ist der Kleiderschrank."

- Man hört's auch. Wenn du hier hingehst, hörst du, dass hier plötzlich Wand ist.

- WOW! Lalalalalalala. - Hört man schon, oder? - Jaja!

Hier ist dann das Bad, das ist auch sehr klein.

Deswegen kann man sich ganz gut orientieren und es ist sehr hell.

Was für mich ganz praktisch ist.

Jetzt ist ja das Licht an, wenn ich jetzt das Licht ausmache, ändert das für dich was?

Ja, das ändert für mich was. Dann hab ich hier im Flur quasi

ich sehe jetzt dann vorne noch, dass es hell ist und dadurch wüsste ich jetzt trotzdem

wo ich hingehe, aber hier im Flur hab ich eigentlich keine

räumliche Wahrnehmung mehr.

Ah, also Licht ist das A und O.

Ja, bei mir schon. Genau. - Okay.

Viele Blinde reagieren auf Licht oder haben einen Sehrest. Generell gilt man

als blind, wenn man mit dem besseren Auge weniger als 2% sieht.

So, dann würde ich sagen...Also ich sag mal, ich hab ein bisschen Hunger.

Ja. Und wir haben ja ein kleines Essensdate.

Dann hol ich mal meinen Schlüssel. Alles klar.

Okay, gut.

Eigentlich arbeitet Anna in München als Psychotherapeuthin und wohnt da auch

seit Kurzem allein.

weil sie aber noch nicht so lange blind ist, lernt sie hier, sich zu orientieren und

spezielle PC-Programme.

Und warum gibt's da so einen Ball unten an dem Stock?

Der ist eigentlich ziemlich wichtig, weil der erfasst letzendlich die

Unebenheiten und alles,

also zum Beispiel: der Untergrund hier ist anders... als der.

Und das würde man ohne diesen Ball gar nicht spüren.

Ach wirklich? Darf ich mal? Ja klar.

Okay. Ah ja, viel intensiver.

Mhm. Ach okay, macht Sinn.

Und dafür ist er halt da.

Hier riecht's ja jetzt ganz intensiv, nach Rotkohl.

Oder Sauerkraut. Sauerkraut, ja, Kantine.

Ist es tatsächlich so, dass wenn das Augenlicht schwindet,

die anderen Sinne dann stärker werden?

Also meine Meinung dazu ist, dass das nicht stimmt,

sondern man sich nur anders auf seine Sinne konzentriert.

Ich hab manchmal ein bisschen das Gefühl, dass das auch eine

Wunschvorstellung von sehenden Menschen ist,

die sich wünschen, dass es blinde Menschen doch nicht so schlecht haben und deswegen

Supersinne entwickeln.

Ah, okay. Hab ich manchmal den Eindruck,

aber das stimmt so nicht.

Ich dachte, wir setzen uns irgendwo hin. Hier hat ja jeder nen Platz!

Die Leute, die besonders schlecht sehen, haben hier ihre angestammten Plätze.

Weil wir bekommen hier Essen sozusagen an den Tisch und die Leute, die besser

sehen, sitzen im anderen Bereich, weil die sich selber am

Buffet quasi bedienen können.

Ah, okay. - Genau.

Ich setz mich mal gegenüber. - Ja, mach das.

So, okay. Na da bin ich jetzt mal gespannt.

Das ist ja interessant. So kippst du dein Wasser ein?

Ja. Ich lass den Finger dann drin, damit man halt weiß, wann man aufhören sollte

zu kippen.

Ist Essen schwer?

Ja. Es ist halt so, tatsächlich, wenn man's nicht sieht, dass einem relativ

viele Malheure passieren können.

Und man oft auch die Sachen vielleicht nicht direkt findet und so und grade

dann auch mit Salat, dann sind die Blätter so groß, man sieht's aber nicht

dann tut man's sich schon in den Mund und es hängt so zum Mund raus.

Ich bin dazu übergegangen, in Restaurants ne zeitlang wirklich nur noch ganz

einfache Sachen zu bestellen, wie Suppe, weil Suppe ist sehr einfach zu essen.

Also ich mochte auch davor gerne Suppe. Aber es hatte schon auch den Grund,

dass es einfacher zu essen ist.

Bitte schön. Vielen Dank.

Lassen Sie sich's schmecken. Danke!

Na dann: Guten Appetit! Guten Appetit.

Wohlgenährt geht's jetzt zum Shoppen.

Und wir gehen in die Würzburger Innenstadt und da fahren wir jetzt mit dem Bus hin.

Ja, genau. Wie organisierst du das?

Ich muss Wege schon lernen, es ist nicht so, dass wenn es jetzt

ein ganz neuer Weg ist, dass ich genau wissen könnte, wo ich hingehe, sondern

ich muss es trainieren.

Und woran orientierst du dich dann?

Also jetzt zum Beispiel ist es ganz gut, an diesem Bordstein hier.

Ah ja, hier ist jetzt zum Beispiel Kopfsteinpflaster.

Das ist hier natürlich extra gemacht, dass man weiß:

"Okay, jetzt kommt gleich die Straße."

Ah, okay.

Ah ja. Hier haben wir wieder ein Aufmerksamkeitsfeld.

Und das ist tatsächlich ganz praktisch, also hier ist ja die Bushaltestelle

und wenn ich mich jetzt quasi hier hinstelle, dann sollte die Bustür hier

sein und dann weiß ich: "Hier muss ich einsteigen."

Ja, siehste. Hat der sich vielleicht auch wegen

der Kamera besonders viel Mühe gegeben.

Wie findest du freie Plätze?

Also, das finde ich eigentlich nur durch Fragen. Und beim Bus mache

ich's eigentlich immer so, dass ich mich ganz nach vorne versuche zu setzen.

Ist dir das dann unangenehm? Zu tasten oder zu suchen?

Mir war's früher extrem unangenehm, inzwischen geht's.

Manchmal ist es mir noch so kurz unangenehm, aber es hat sich extrem verändert,

weil irgendwann denkt man sich halt: "Es geht nicht anders und jetzt ist es so."

Es ist interessanterweise eh so ne Fehlannahme, dass Menschen um

dich herum ganz still sind, plötzlich.

Und eigentlich muss man, grade bei Menschen, die nichts sehen, genau das Gegenteil machen

und laut sagen: "Hallo" oder "hier bin ich" oder "Hier sitzt schon jemand", also

dass man eher kommuniziert, weil darüber läuft ja unsere Wahrnehmung und es gibt

aber ganz viele, glaub ich, die pressen sich dann ganz still an die Wand, damit man

ja aus dem Weg ist, oder so, aber wenn man dann doch irgendwie dagegen stößt, kriegt

man eher einen Schreck.

Das ist das Zeichen für Ampel?

Hier hat man, also das zeigt mir an: "Hier ist ein Straßenübergang."

Und das ist so nach vorne gewandt, das zeigt mir an, hier ist ne Ampel.

Und hier haben wir jetzt auch irgendwo die Blindenampel.

So, hier hast du auch noch ein Tonsignal sogar und es vibriert auch.

Also sozusagen beides.

Aber jetzt ist es auch schon wieder vorbei. Wir können uns auch beeilen.

Ach was. Schnell, schnell, schnell.

Schnell, schnell, schnell.

Von den sogenannten "Aufmerksamkeitsfeldern"

auf Gehwegen und Straßen gibt es verschiedene

Varianten. Und auch nicht jede Stadt ist gleich gut damit ausgestattet.

Wie nimmst du jetzt diese, was ist denn das, diese Fußgängerzone wahr?

Mit den ganzen Gerüchen und Eindrücken?

Also, wir sind grade vorhin an einem intensiven Dönergeruch vorbeigekommen,

sowas nimmt man natürlich schon wahr, auch dass einiges los ist.

Eben auch, dass hier ab und zu ne Tram durchfährt, die ja auch recht laut ist, so.

Also ich kann mir das schon so ein bisschen vorstellen.

Also, ich liebe ja Blumen. Und grade laufen wir rechts an einem Blumenladen vorbei.

Vermisst du irgendwas, was du nicht mehr sehen kannst?

Ja, viel. Was ich am meisten vermisse, sind eigentlich die Menschen.

Dass ich die nicht mehr sehe. Also grade auch Menschen, die mir nahe stehen,

aber auch wenn man jemanden neu kennenlernt.

Vergisst man, wie Leute aussehen? - Ja.

Also es gibt noch so ein, zwei, drei Leute, bei denen hab ich noch ein Bild im Kopf,

aber es wird auch immer weniger und bei den anderen ist es schon viel weniger geworden.

Also die ich sozusagen noch von früher kenne, man vergisst es irgendwann,

ein Stück weit.

Wie fühlt sich das an?

Ja, das ist schon ein komisches Gefühl. Weil man versucht ja auch da, was

festzuhalten, aber es so langsam dann einem so zerrinnt, aber manchmal entsteht da auch

so ein bisschen...irgendein Bild hat man trotzdem noch.

Es verändert sich nur und ist halt nicht mehr so konkret.

Also der Laden sieht schon mal gut aus. Also da finden wir auf jeden Fall was.

Da freu ich mich.

So Anna, wie funktioniert das jetzt?

Jetzt machen wir das am besten so, dass wir ein bisschen durchgehen und

du mir dann so ein bisschen beschreibst und vor allem auch sagst, wenn du was siehst,

was dir passend erscheint. Ich hab jetzt eigentlich keine so konkreten Vorstellungen.

Was ich nicht so mag, sind so riesige Ausschnitte vorne, also Rücken geht schon,

es kann auch was Langärmliges sein, achso und keine Spaghettiträger,

das mag ich auch nicht.

Es gibt Apps, die blinden Menschen helfen, Farben zu erkennen. Aber Anna verlässt sich

beim Einkaufen lieber auf ihre Freunde.

Okay, wir nehmen... Ist das die Größte? Ne, normal.

So... Also mir gefällt der sehr gut.

Ja? Der sieht sehr schön herbstlich-winterlich

aus, finde ich, sehr weich und du siehst darin sehr süß aus, find ich.

Ja und das ist auch ganz gut zu ner schwarzen, engen Hose einfach.

So.. Sehr gut.

Wie entscheidest du dich eigentlich, musst du dich da komplett auf andere verlassen?

Ist es einfacher dann? Ja.

Also natürlich kann ich fühlen, wie der Stoff ist und so, aber vom Aussehen

her muss ich mich auf andere verlassen. Und das muss ich dann dementsprechend

auch machen. Deswegen versuche ich natürlich auch, Personen mit zum Einkaufen zu nehmen,

wo ich weiß, die haben so ein bisschen ne Ahnung was mir gefallen könnte oder

haben ne gute Einschätzung dafür oder sowas, genau.

Anna. Ich sag mal so: Volltreffer. Hahaha.

Hallo, ja genau. Sehr gerne.

Wie erfühlst du die Scheine?

Also, du legst das um den Finger. Und dann guckst du quasi oder fühlst, wie viel guckt

über deinen Finger hinaus? Und, genau, Fünfziger ist ja sehr viel länger als der

Zwanziger.

Ach was...Zeig mal!

Es ist ein halber, ja noch nicht mal ein halber Zentimeter.

Genau, aber wenn du es um deinen Finger legst, spürst du es ganz deutlich.

Danke auch.

So, jetzt rechts.

Macht dich dein, ich sag jetzt mal dein "Schicksal" traurig?

Hmmm... Also ja, mich macht's schon manchmal traurig, dass ich quasi nur noch

so wenig sehen kann, aber ich glaube, ich bin jetzt kein Mensch, der sich ständig damit

beschäftigt. Und wenn man zu sehr daran hängt, was für ein schlimmes Schicksal man

hat, dann kommt man da wahrscheinlich auch nicht mehr raus.

Gibt es irgendwas, durch die Behinderung, das dich bereichert?

Ich glaube, dass das schon ein Stück weit ne Bereicherung ist, dass man halt auch

irgendwie bemerkt: Okay, auch wenn man eigentlich dachte: "Gott, wie soll ich damit leben?

Wie kann's überhaupt weitergehen?" Irgendwie geht's weiter und irgendwie kriegt man's hin.

Auch Weggehen gehört zu Annas neuem blinden Alltag.

Und natürlich machen wir uns dafür schick.

Wie schminkst du dich überhaupt? Ich kann mir das

nämlich überhaupt nicht vorstellen.

Also ich mach tatsächlich die Sachen, die ich auch früher gemacht habe,

also einfach Puder, Tagescreme, bisschen Rouge

und eventuell Wimperntusche und oder Lippenstift.

Lippenstift vor allem!

Das geht eigentlich, wenn man es mit der Hand aufträgt, das ist halt so die Sache.

Wenn man's mit der Hand auftragen kann, dann ist es ganz gut.

Piekt man sich da nicht manchmal ins Auge?

Ne, also, das spürst du ja. Ich bin wahrscheinlich auch vorsichtiger als jemand,

der sieht.

Ah, jetzt kommt der Lippenstift. Die Königsdisziplin.

Da ist der Lippenstift...

Das ist ja ein Ding.

Versuchst du, vor anderen nicht blind zu wirken?

Äh, nicht mehr. Also das ist nicht mehr der Fall. Aber tatsächlich früher, da war es mir

manchmal unangenehm und ich hab mir Mühe gegeben, dass es so wenig wie möglich

auffällt, ich hab versucht, kompetenter zu wirken bei Wegen oder wenn man saß, dann war

es mir angenehmer, wenn die Leute nicht direkt bemerkt haben, dass ich ein

"Problem" habe. Aber inzwischen kann ich damit

besser und offener umgehen.

Okay. Darf ich mir ein bisschen Haarspray leihen?

Natürlich.

Bisschen ist gut. Naja, egal.

Okay. Keiner kann mehr atmen, ich hoffe, beide sind fertig?

Ja. Okay, dann geht's jetzt in die Bar.

Also jetzt mal ganz praktisch, ja. Jetzt stell dir mal vor, wir sitzen hier. Ich

sehe, dass irgendso ein Typ dich die ganze Zeit sehr anguckt, sehr anlächelt...

Wie geht's dann weiter?

Dann geht's manchmal auch gar nicht weiter, weil da kommt halt genau die Problematik

ins Spiel, dass ich ja nicht mit den Augen flirten kann. Das heißt, entweder, dieser

Mensch überwindet sich irgendwann und sagt: "Okay, ich geh mal rüber" oder halt nicht.

Aber er hat davor natürlich wenig oder weniger Sicherheit, weil ich jetzt keine

Blicke geworfen habe.

Wenn ich als Sehende jetzt vielleicht optisch oberflächlich bin, im Sinne von

also auf manche Phänotypen komm ich einfach nicht klar.

Gibt es das bei dir, das vielleicht in der Stimme?

Zu hohe Stimmen zum Beispiel find ich schwierig.

Zu starker Dialekt. Tu ich mir auch schwer mit. Also ein bisschen Einschlag ist okay,

aber sobald es zu stark wird... oder zu monotones Reden,

find ich auch schwierig.

Und wenn wir jetzt mal in die Zukunft schauen. Was wünschst du dir?

Was ich mir aktuell vor allem wünsche ist, dass ich erstmal wieder gut in München

ankomme und vor allen Dingen gut in meinem Job ankomme

und auch gut meine Ausbildung zur Therapeutin fertig machen kann.

Das sind jetzt grade so die wichtigsten Punkte. Dass ich mich mit dem allein

wohnen, was jetzt auf mich zukommt, gut arrangieren kann

weil ich halt ewig lang in Wohngemeinschaften

gelebt habe. Also das wird auch nochmal ein Schritt.

Und dann vielleicht irgendwann auch nochmal jemanden kennenzulernen.

So, ausgetrunken. Jetzt geht's aber nach Hause, wa?

Ja, genau aber ich hoffe du hast noch auf dem Schirm, dass du mich ja noch nach Hause

bringen musst. Es geht nicht anders.

Ah, ja. Das ist ein Service, der ist mit inklusive.

Sehr gut.


Jung und blind: Wie ist es, plötzlich blind zu sein? (Teil 1) || PULS Reportage Jovem e cego: Como é ser cego de repente? (Parte 1) || PULS Reportagem

Ist Essen denn schwer?

Ja! Also bei Salat sind die Blätter so groß, man sieht's aber nicht.

Dann tut man sie sich schon in den Mund und es hängt dir dann zum Mund raus.

Piekt man sich da nicht manchmal ins Auge?

Ne, das spürst du ja!

Ich sehe, dass irgendso ein Typ dich die ganze Zeit sehr anguckt, sehr anlächelt.

Da kommt halt genau die Problematik ins Spiel, dass ich dann nicht mit den Augen flirten kann.

Busch, Brunnen, ihr seht mich, ich seh die Kamera und hier geht's rein.

Alles, was ich tue, ob privat oder beruflich, basiert darauf, dass ich sehen kann.

Aber was ist, wenn das irgendwann nicht mehr geht? Wenn du einfach blind wirst?

Ich treff heute ne Frau, bei der ist das so. Und soweit ich weiß, wohnt die hier im 2. Stock.

Hier sind schon mal Treppen, sieht ja gut aus. Die nehm ich mal.

Anna ist 30 und langsam durch eine Autoimmunkrankheit erblindet.

Seit einem Jahr kann sie nur noch hell und dunkel unterscheiden.

Ahh! Anna, da steht's, aber gleich hier mit Blindenschrift.

Ist ja schon mal gut. Das erste Mal, das ich das hier sehe.

Hallo Anna! - Hey! Hallo!

Mein Name ist Ariane und wir verbringen heute einen Tag zusammen, nicht wahr?

Ja, freut mich. - Ich mich auch. Bin ein bisschen aufgeregt.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie du das hinkriegst.

Ja, komm rein. Es ist sehr eng, also musst ein bisschen aufpassen.

- Aber ganz ordentlich! Das ist schon mal besser als bei mir.

Wie orientierst du dich denn? Sagen wir mal so:

Führ mich mal hier durch dein ganz kleines Reich.

- Dafür müssen wir kurz Plätze tauschen.

Also ich orientier mich schon ein bisschen am Türrahmen, um zu gucken, dass man nicht dagegen läuft.

Draußen macht man das natürlich mit Stock.

Dann würde ich jetzt hier auch so: bin ich jetzt am Ende des Ganges?

Hier haben wir halt Kleiderschrank und Garderobe...

- Wahnsinn! Du kannst ja ganz zielsicher sagen: "Hier ist der Kleiderschrank."

- Man hört's auch. Wenn du hier hingehst, hörst du, dass hier plötzlich Wand ist.

- WOW! Lalalalalalala. - Hört man schon, oder? - Jaja!

Hier ist dann das Bad, das ist auch sehr klein.

Deswegen kann man sich ganz gut orientieren und es ist sehr hell.

Was für mich ganz praktisch ist.

Jetzt ist ja das Licht an, wenn ich jetzt das Licht ausmache, ändert das für dich was?

Ja, das ändert für mich was. Dann hab ich hier im Flur quasi

ich sehe jetzt dann vorne noch, dass es hell ist und dadurch wüsste ich jetzt trotzdem

wo ich hingehe, aber hier im Flur hab ich eigentlich keine

räumliche Wahrnehmung mehr.

Ah, also Licht ist das A und O.

Ja, bei mir schon. Genau. - Okay.

Viele Blinde reagieren auf Licht oder haben einen Sehrest. Generell gilt man

als blind, wenn man mit dem besseren Auge weniger als 2% sieht.

So, dann würde ich sagen...Also ich sag mal, ich hab ein bisschen Hunger.

Ja. Und wir haben ja ein kleines Essensdate.

Dann hol ich mal meinen Schlüssel. Alles klar.

Okay, gut.

Eigentlich arbeitet Anna in München als Psychotherapeuthin und wohnt da auch

seit Kurzem allein.

weil sie aber noch nicht so lange blind ist, lernt sie hier, sich zu orientieren und

spezielle PC-Programme.

Und warum gibt's da so einen Ball unten an dem Stock?

Der ist eigentlich ziemlich wichtig, weil der erfasst letzendlich die

Unebenheiten und alles,

also zum Beispiel: der Untergrund hier ist anders... als der.

Und das würde man ohne diesen Ball gar nicht spüren.

Ach wirklich? Darf ich mal? Ja klar.

Okay. Ah ja, viel intensiver.

Mhm. Ach okay, macht Sinn.

Und dafür ist er halt da.

Hier riecht's ja jetzt ganz intensiv, nach Rotkohl.

Oder Sauerkraut. Sauerkraut, ja, Kantine.

Ist es tatsächlich so, dass wenn das Augenlicht schwindet,

die anderen Sinne dann stärker werden?

Also meine Meinung dazu ist, dass das nicht stimmt,

sondern man sich nur anders auf seine Sinne konzentriert.

Ich hab manchmal ein bisschen das Gefühl, dass das auch eine

Wunschvorstellung von sehenden Menschen ist,

die sich wünschen, dass es blinde Menschen doch nicht so schlecht haben und deswegen

Supersinne entwickeln.

Ah, okay. Hab ich manchmal den Eindruck,

aber das stimmt so nicht.

Ich dachte, wir setzen uns irgendwo hin. Hier hat ja jeder nen Platz!

Die Leute, die besonders schlecht sehen, haben hier ihre angestammten Plätze.

Weil wir bekommen hier Essen sozusagen an den Tisch und die Leute, die besser

sehen, sitzen im anderen Bereich, weil die sich selber am

Buffet quasi bedienen können.

Ah, okay. - Genau.

Ich setz mich mal gegenüber. - Ja, mach das.

So, okay. Na da bin ich jetzt mal gespannt.

Das ist ja interessant. So kippst du dein Wasser ein?

Ja. Ich lass den Finger dann drin, damit man halt weiß, wann man aufhören sollte

zu kippen.

Ist Essen schwer?

Ja. Es ist halt so, tatsächlich, wenn man's nicht sieht, dass einem relativ

viele Malheure passieren können.

Und man oft auch die Sachen vielleicht nicht direkt findet und so und grade

dann auch mit Salat, dann sind die Blätter so groß, man sieht's aber nicht

dann tut man's sich schon in den Mund und es hängt so zum Mund raus.

Ich bin dazu übergegangen, in Restaurants ne zeitlang wirklich nur noch ganz

einfache Sachen zu bestellen, wie Suppe, weil Suppe ist sehr einfach zu essen.

Also ich mochte auch davor gerne Suppe. Aber es hatte schon auch den Grund,

dass es einfacher zu essen ist.

Bitte schön. Vielen Dank.

Lassen Sie sich's schmecken. Danke!

Na dann: Guten Appetit! Guten Appetit.

Wohlgenährt geht's jetzt zum Shoppen.

Und wir gehen in die Würzburger Innenstadt und da fahren wir jetzt mit dem Bus hin.

Ja, genau. Wie organisierst du das?

Ich muss Wege schon lernen, es ist nicht so, dass wenn es jetzt

ein ganz neuer Weg ist, dass ich genau wissen könnte, wo ich hingehe, sondern

ich muss es trainieren.

Und woran orientierst du dich dann?

Also jetzt zum Beispiel ist es ganz gut, an diesem Bordstein hier.

Ah ja, hier ist jetzt zum Beispiel Kopfsteinpflaster.

Das ist hier natürlich extra gemacht, dass man weiß:

"Okay, jetzt kommt gleich die Straße."

Ah, okay.

Ah ja. Hier haben wir wieder ein Aufmerksamkeitsfeld.

Und das ist tatsächlich ganz praktisch, also hier ist ja die Bushaltestelle

und wenn ich mich jetzt quasi hier hinstelle, dann sollte die Bustür hier

sein und dann weiß ich: "Hier muss ich einsteigen."

Ja, siehste. Hat der sich vielleicht auch wegen

der Kamera besonders viel Mühe gegeben.

Wie findest du freie Plätze?

Also, das finde ich eigentlich nur durch Fragen. Und beim Bus mache

ich's eigentlich immer so, dass ich mich ganz nach vorne versuche zu setzen.

Ist dir das dann unangenehm? Zu tasten oder zu suchen?

Mir war's früher extrem unangenehm, inzwischen geht's.

Manchmal ist es mir noch so kurz unangenehm, aber es hat sich extrem verändert,

weil irgendwann denkt man sich halt: "Es geht nicht anders und jetzt ist es so."

Es ist interessanterweise eh so ne Fehlannahme, dass Menschen um

dich herum ganz still sind, plötzlich.

Und eigentlich muss man, grade bei Menschen, die nichts sehen, genau das Gegenteil machen

und laut sagen: "Hallo" oder "hier bin ich" oder "Hier sitzt schon jemand", also

dass man eher kommuniziert, weil darüber läuft ja unsere Wahrnehmung und es gibt

aber ganz viele, glaub ich, die pressen sich dann ganz still an die Wand, damit man

ja aus dem Weg ist, oder so, aber wenn man dann doch irgendwie dagegen stößt, kriegt

man eher einen Schreck.

Das ist das Zeichen für Ampel?

Hier hat man, also das zeigt mir an: "Hier ist ein Straßenübergang."

Und das ist so nach vorne gewandt, das zeigt mir an, hier ist ne Ampel.

Und hier haben wir jetzt auch irgendwo die Blindenampel.

So, hier hast du auch noch ein Tonsignal sogar und es vibriert auch.

Also sozusagen beides.

Aber jetzt ist es auch schon wieder vorbei. Wir können uns auch beeilen.

Ach was. Schnell, schnell, schnell.

Schnell, schnell, schnell.

Von den sogenannten "Aufmerksamkeitsfeldern"

auf Gehwegen und Straßen gibt es verschiedene

Varianten. Und auch nicht jede Stadt ist gleich gut damit ausgestattet.

Wie nimmst du jetzt diese, was ist denn das, diese Fußgängerzone wahr?

Mit den ganzen Gerüchen und Eindrücken?

Also, wir sind grade vorhin an einem intensiven Dönergeruch vorbeigekommen,

sowas nimmt man natürlich schon wahr, auch dass einiges los ist.

Eben auch, dass hier ab und zu ne Tram durchfährt, die ja auch recht laut ist, so.

Also ich kann mir das schon so ein bisschen vorstellen.

Also, ich liebe ja Blumen. Und grade laufen wir rechts an einem Blumenladen vorbei.

Vermisst du irgendwas, was du nicht mehr sehen kannst?

Ja, viel. Was ich am meisten vermisse, sind eigentlich die Menschen.

Dass ich die nicht mehr sehe. Also grade auch Menschen, die mir nahe stehen,

aber auch wenn man jemanden neu kennenlernt.

Vergisst man, wie Leute aussehen? - Ja.

Also es gibt noch so ein, zwei, drei Leute, bei denen hab ich noch ein Bild im Kopf,

aber es wird auch immer weniger und bei den anderen ist es schon viel weniger geworden.

Also die ich sozusagen noch von früher kenne, man vergisst es irgendwann,

ein Stück weit.

Wie fühlt sich das an?

Ja, das ist schon ein komisches Gefühl. Weil man versucht ja auch da, was

festzuhalten, aber es so langsam dann einem so zerrinnt, aber manchmal entsteht da auch

so ein bisschen...irgendein Bild hat man trotzdem noch.

Es verändert sich nur und ist halt nicht mehr so konkret.

Also der Laden sieht schon mal gut aus. Also da finden wir auf jeden Fall was.

Da freu ich mich.

So Anna, wie funktioniert das jetzt?

Jetzt machen wir das am besten so, dass wir ein bisschen durchgehen und

du mir dann so ein bisschen beschreibst und vor allem auch sagst, wenn du was siehst,

was dir passend erscheint. Ich hab jetzt eigentlich keine so konkreten Vorstellungen.

Was ich nicht so mag, sind so riesige Ausschnitte vorne, also Rücken geht schon,

es kann auch was Langärmliges sein, achso und keine Spaghettiträger,

das mag ich auch nicht.

Es gibt Apps, die blinden Menschen helfen, Farben zu erkennen. Aber Anna verlässt sich

beim Einkaufen lieber auf ihre Freunde.

Okay, wir nehmen... Ist das die Größte? Ne, normal.

So... Also mir gefällt der sehr gut.

Ja? Der sieht sehr schön herbstlich-winterlich

aus, finde ich, sehr weich und du siehst darin sehr süß aus, find ich.

Ja und das ist auch ganz gut zu ner schwarzen, engen Hose einfach.

So.. Sehr gut.

Wie entscheidest du dich eigentlich, musst du dich da komplett auf andere verlassen?

Ist es einfacher dann? Ja.

Also natürlich kann ich fühlen, wie der Stoff ist und so, aber vom Aussehen

her muss ich mich auf andere verlassen. Und das muss ich dann dementsprechend

auch machen. Deswegen versuche ich natürlich auch, Personen mit zum Einkaufen zu nehmen,

wo ich weiß, die haben so ein bisschen ne Ahnung was mir gefallen könnte oder

haben ne gute Einschätzung dafür oder sowas, genau.

Anna. Ich sag mal so: Volltreffer. Hahaha.

Hallo, ja genau. Sehr gerne.

Wie erfühlst du die Scheine?

Also, du legst das um den Finger. Und dann guckst du quasi oder fühlst, wie viel guckt

über deinen Finger hinaus? Und, genau, Fünfziger ist ja sehr viel länger als der

Zwanziger.

Ach was...Zeig mal!

Es ist ein halber, ja noch nicht mal ein halber Zentimeter.

Genau, aber wenn du es um deinen Finger legst, spürst du es ganz deutlich.

Danke auch.

So, jetzt rechts.

Macht dich dein, ich sag jetzt mal dein "Schicksal" traurig?

Hmmm... Also ja, mich macht's schon manchmal traurig, dass ich quasi nur noch

so wenig sehen kann, aber ich glaube, ich bin jetzt kein Mensch, der sich ständig damit

beschäftigt. Und wenn man zu sehr daran hängt, was für ein schlimmes Schicksal man

hat, dann kommt man da wahrscheinlich auch nicht mehr raus.

Gibt es irgendwas, durch die Behinderung, das dich bereichert?

Ich glaube, dass das schon ein Stück weit ne Bereicherung ist, dass man halt auch

irgendwie bemerkt: Okay, auch wenn man eigentlich dachte: "Gott, wie soll ich damit leben?

Wie kann's überhaupt weitergehen?" Irgendwie geht's weiter und irgendwie kriegt man's hin.

Auch Weggehen gehört zu Annas neuem blinden Alltag.

Und natürlich machen wir uns dafür schick.

Wie schminkst du dich überhaupt? Ich kann mir das

nämlich überhaupt nicht vorstellen.

Also ich mach tatsächlich die Sachen, die ich auch früher gemacht habe,

also einfach Puder, Tagescreme, bisschen Rouge

und eventuell Wimperntusche und oder Lippenstift.

Lippenstift vor allem!

Das geht eigentlich, wenn man es mit der Hand aufträgt, das ist halt so die Sache.

Wenn man's mit der Hand auftragen kann, dann ist es ganz gut.

Piekt man sich da nicht manchmal ins Auge?

Ne, also, das spürst du ja. Ich bin wahrscheinlich auch vorsichtiger als jemand,

der sieht.

Ah, jetzt kommt der Lippenstift. Die Königsdisziplin.

Da ist der Lippenstift...

Das ist ja ein Ding.

Versuchst du, vor anderen nicht blind zu wirken?

Äh, nicht mehr. Also das ist nicht mehr der Fall. Aber tatsächlich früher, da war es mir

manchmal unangenehm und ich hab mir Mühe gegeben, dass es so wenig wie möglich

auffällt, ich hab versucht, kompetenter zu wirken bei Wegen oder wenn man saß, dann war

es mir angenehmer, wenn die Leute nicht direkt bemerkt haben, dass ich ein

"Problem" habe. Aber inzwischen kann ich damit

besser und offener umgehen.

Okay. Darf ich mir ein bisschen Haarspray leihen?

Natürlich.

Bisschen ist gut. Naja, egal.

Okay. Keiner kann mehr atmen, ich hoffe, beide sind fertig?

Ja. Okay, dann geht's jetzt in die Bar.

Also jetzt mal ganz praktisch, ja. Jetzt stell dir mal vor, wir sitzen hier. Ich

sehe, dass irgendso ein Typ dich die ganze Zeit sehr anguckt, sehr anlächelt...

Wie geht's dann weiter?

Dann geht's manchmal auch gar nicht weiter, weil da kommt halt genau die Problematik

ins Spiel, dass ich ja nicht mit den Augen flirten kann. Das heißt, entweder, dieser

Mensch überwindet sich irgendwann und sagt: "Okay, ich geh mal rüber" oder halt nicht.

Aber er hat davor natürlich wenig oder weniger Sicherheit, weil ich jetzt keine

Blicke geworfen habe.

Wenn ich als Sehende jetzt vielleicht optisch oberflächlich bin, im Sinne von

also auf manche Phänotypen komm ich einfach nicht klar.

Gibt es das bei dir, das vielleicht in der Stimme?

Zu hohe Stimmen zum Beispiel find ich schwierig.

Zu starker Dialekt. Tu ich mir auch schwer mit. Also ein bisschen Einschlag ist okay,

aber sobald es zu stark wird... oder zu monotones Reden,

find ich auch schwierig.

Und wenn wir jetzt mal in die Zukunft schauen. Was wünschst du dir?

Was ich mir aktuell vor allem wünsche ist, dass ich erstmal wieder gut in München

ankomme und vor allen Dingen gut in meinem Job ankomme

und auch gut meine Ausbildung zur Therapeutin fertig machen kann.

Das sind jetzt grade so die wichtigsten Punkte. Dass ich mich mit dem allein

wohnen, was jetzt auf mich zukommt, gut arrangieren kann

weil ich halt ewig lang in Wohngemeinschaften

gelebt habe. Also das wird auch nochmal ein Schritt.

Und dann vielleicht irgendwann auch nochmal jemanden kennenzulernen.

So, ausgetrunken. Jetzt geht's aber nach Hause, wa?

Ja, genau aber ich hoffe du hast noch auf dem Schirm, dass du mich ja noch nach Hause

bringen musst. Es geht nicht anders.

Ah, ja. Das ist ein Service, der ist mit inklusive.

Sehr gut.