Mein roter Badeanzug und die Vorbereitungen für das Hausfest
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Herzlich willkommen zur dritten Sendung „Zukker im Leben“ vom 22. September 2017. Es freut mich sehr, sind Sie wieder mit dabei. Es hat gestern Abend wahnsinnig gewindet und dabei ist mein roter Badeanzug auf den Balkon von Tom gefallen. Was dann passiert ist, werde ich Ihnen heute erzählen. Es wird einfach immer komplizierter mit meinem attraktiven Nachbarn. Und wissen Sie was? Nächste Woche findet das Hausfest statt. Ich habe wieder mit Brigit Kaffee getrunken und wir haben mit den Vorbereitungen angefangen. Viel Vergnügen!
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Ich habe meinen roten Badeanzug zum Trocknen an einen Kleiderbügel auf den Balkon gehängt. Während ich mit meinem Vater telefoniere, bestelle ich online eine Pizza. Mein Vater will wissen, ob es einen Mann in meinem Leben gibt. Das ist eigentlich das Einzige, was ihn interessiert. Er wünscht sich Enkelkinder, weil er seit Kurzem pensioniert[1] ist und viel Zeit hat. Ich sage nicht sofort „Nein“ und bin auch nicht gleich eingeschnappt [2]. „Ja, es gibt den Tom... Er ist mein neuer Nachbar und wohnt in der Wohnung unter mir. Er sieht wahnsinnig gut aus!“, erzähle ich meinem Vater. Meine Stimme klingt furchtbar verknallt[3]. „Was macht er beruflich?“, mein Vater will die Fakten [4] wissen. Ich erzähle ihm, dass ich mit Tom noch nie geredet hätte und dass mich sein Beruf überhaupt nicht interessiere. Solange er kein Drogendealer, Massenmörder oder rechter Politiker sei. Ich muss erst herausfinden, wer die Frau ist mit der ich ihn auf dem Floss gesehen habe. „Viel Glück und mach dich nicht unglücklich!“, verabschiedet sich mein Vater. Es klingelt an der Türe. Endlich! Die Pizza! Ich suche mein Portemonnaie in meiner Handtasche, springe durch den Flur [5] zur Wohnungstüre und reisse sie auf. Im Türrahmen steht kein Pizzakurier mit einem Karton.Mein Blick fällt direkt auf meinen knallroten Badeanzug, der auf den Boden tropft. Er ist barfuss [6] und ich sehe, dass er am linken Fuss nur vier Zehen hat. „Der ist auf meinen Balkon gefallen!“, lacht Tom und gibt mir den Badeanzug. Ich werde rot im Gesicht und sage „Danke“. Zwischen mir und dem Badeanzug besteht farblich [7] kein Unterschied mehr. Tom fragt mich: „Kann es sein, dass ich dich im Mythenquai gesehen habe? Gehst du auch oft baden?“ Dann schaut er mich aus seinen grossen grünen Augen an. „Nein, ich schwimme eigentlich nie.Ich bin allergisch gegen Seewasser [8]!“„Wirklich? Das habe ich noch nie gehört!“, Tom ist sehr verunsichert. „Ja, es ist eine sehr seltene Krankheit und noch nicht wirklich erforscht und natürlich ein gesellschaftliches Tabu“ [9], ich schaue Tom an und denke, was denn für ein gesellschaftliches Tabu? Menschen, die eine Wasserallergie haben, werden ausgeschlossen? Um Himmels Willen, es ist alles so absurd [10] und die Einzige, die alles kompliziert macht, bin ganz alleine ich. „Oh, das ist schlimm und tut mir Leid für dich.Wem gehört denn der Badeanzug?“, Tomschaut an mir vorbei in meine Wohnung und denkt vielleicht, dass ich doch nicht alleine wohne. „Der gehört meiner Halbschwester!“, ich lächle ihn an und gleichzeitig will ich schreien, weil ich immer mehr lüge. „Wirklich? Ich habe auch eine Halbschwester. Sie ist Schwimmerin, also beruflich und im Sommer will sie immer mit mir ins Freibad, obwohl ich nicht so gerne schwimme. Aber was tut man nicht alles für die Familie!“,Tom lächelt mich an und dann klingelt es. Endlich. Der Pizzakurier. Jetzt halte ich den Pizzakarton und den feuchten [11] Badeanzug in meinen Händen. Tom verabschiedet sich. „Kommst du auch zum Hausfest?“, rufe ich Tom nach. „Hausfest? Ja sehr gerne!“ „Schön!“, ich schliesse die Wohnungstüre hinter mir und setzte mich auf mein Sofa. Endlich kann ich die Pizza essen.
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Heute kommt Brigit zum mir. Wir haben uns gestern in der Waschküche getroffen und da habe ich sie einfach zu mir eingeladen. Sie hat sich sehr gefreut und gesagt, dass sie einen Kuchen backen werde. Ich sollte eigentlich noch staubsaugen, aber das wird Brigit vielleicht nicht so sehr stören. Seit ihr Kater Mio gestorben ist, hat sie ja in ihrer Wohnung nicht mehr geputzt. „Hallo Brigit“, sie steht vor meiner Türe mit einem Kuchen. „Ich habe extra eine hübsche Bluse angezogen. Ich werde nicht oft eingeladen, aber wenn ich eingeladen werde, ziehe ich immer diese Bluse an!“, sie lächelt und setzt sich direkt auf meinen Balkon, wo sie sich eine Zigarette anzündet. Wir essen Kuchen, trinken Kaffee und rauchen. Ich erzähle Brigit, dass ich gerne ein Hausfest machen möchte, aber dass ich leider keine Zeit habe, alles alleine zu organisieren. Brigit ist begeistert [12]. Dass ich keine Zeit habe ist gelogen, aber Brigit muss eine Aufgabe haben, sonst vereinsamt [13] sie. „Also die Müllers laden wir sicher nicht ein!“, Brigit setzt sich gerade hin und verschränkt [14] die Arme. „Wer sind die Müllers und warum?“, ich kenne noch nicht alle Nachbarn, weil ich noch gar nicht so lange hier lebe, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich bereits die zwei besten Nachbarn gefunden habe. „Die Müllers trennen ihren Abfall nicht! Die werfen Glasflaschen, Karton und Pet-Flaschen [15] in den Züri-Sack [16]. Und sie denken, ich höre das nicht, wenn der Herr Müller wieder einen Züri-Sack in den Container wirft und es klirrt [17]!“, Brigit bekommt rote Flecken am Hals, weil sie sich so aufregt. „Wir können nicht alle anderen einladen, aber die Müllers nicht“, erkläre ich ihr und sage dann, dass wir zuerst besprechen sollten, was wir alles einkaufen müssen. Brigit will grillieren [18]. Und dazu soll jeder ein Stück Fleisch oder eine Wurst mitbringen. „Salate und Dessert dürfen wir nicht vergessen!“, Brigit ist ganz aufgeregt vor Freude. Wir brauchen Tische und Festbänke [19] fällt mir ein. Brigitschaut mich ganz stolz an und erzählt mir dann, dass sie im Keller genügend Tische und Bänke habe. Irgendwie überrascht mich das nicht. Brigit müsste einen Partyservice eröffnen, dann würde sie endlich für all diese Dinge Verwendung finden. [20] Plötzlich wird Brigit ganz still und schaut in den Himmel. „Ich möchte, dass eine Band spielt, Nora!“ „Wer soll das denn bezahlen?“, ich schneide uns ein zweites Stück Kuchen ab. „Der Viktor würde sicher gratis spielen, wenn ich ihn frage“, Brigit schaut mich an, als müsste ich nachfragen, wer Viktor ist. Aber sie wartet nicht und erzählt weiter: „In den Viktor war ich früher sehr verliebt. Aber er hat sich dann in meine beste Freundin verliebt. Die zwei sind kein Paar mehr. Aber ich kann Viktor nicht zu mir einladen, da müsste ich erst meine Wohnung aufräumen.“ Brigit läuft eine Träne über ihr Gesicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie einsam sie ist. Viktor spiele seit vielen Jahren Trompete in einer Band, erklärt sie mir. Und diese Band hätte jeden Mittwochabend in einer Bar gespielt, in die sie gegangen sei. „Viktor hat mich immer bis zu mir nach Hause begleitetet, wie ein Gentlemen, aber bis heute haben wir uns nie geküsst!“, Brigit zündet sich die letzte Zigarette an, dann verabschiedet sie sich.
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Ich freue mich sehr, wenn ich Ihnen am 6. Oktober auf podclub.ch und in der App wieder von meinen Nachbarn erzählen darf. Ich hoffe sehr, dass Tom zum Hausfest kommt. Aber ich habe auch etwas Angst, weil ich ihn angelogen habe wegen meiner Allergie. Tom ist ja eigentlich so ein netter Mann, aber ich habe alles noch viel komplizierter gemacht.Jedenfalls bin ich gespannt, ob Brigit ihren Viktor einladen wird. Es würde ihr gut tun, wenn sie einen Freund findet. Schauen Sie doch in der Zwischenzeit bei Instagram unter#PodClubNora und #zukkerimleben vorbei oder üben Sie mit dem Vokabeltrainer in unserer App. Auf Wiederhören! Glossar: Zukker im Leben (D) [1] pensioniert sein: im Ruhestand sein, nicht mehr arbeiten, eine Rente beziehen
[2] eingeschnappt sein: beleidigt, verärgert, trotzig sein
[3] verknallt sein: sehr heftig und stark verliebt sein
[4] die Fakten: Informationen mit einem hohen Wahrheitsgehalt
[5] der Flur: ein langer, gestreckter Raum innerhalb der Wohnung, Hausflur
[6] barfuss: mit blossen Füssen, ohne Schuhe oder Socken
[7] farblich: die Farbe, Färbung von etwas betreffend
[8] allergisch sein: übertrieben empfindlich sein
[9] das Tabu: Verbot, Einschränkung, etwas worüber man nicht spricht
[10] absurd: dem gesunden Menschenverstand völlig fern
[11] feucht: ein wenig nass
[12] begeistert sein: hingerissen sein, erfreut und entzückt sein, geradezu positiv überwältigt sein
[13] vereinsamen: zunehmend einsam werden, jemand der oft alleine ist, vereinsamt
[14] verschränken: Gliedmassen über Kreuz legen, Arme verschränken hinter dem Kopf oder vor der Brust
[15] die Pet-Flasche: Flasche aus dem Kunststoff PET
[16] der Züri-Sack: Kehrichtsack, gebührenpflichtiger Abfallsack in der Stadt Zürich
[17] klirren: Geräusch, wenn ein zerbrechlicher Gegenstand kaputt geht
[18] grillieren: etwas auf dem Grill rösten, in Deutschland sagt man: grillen
[19] die Festbänke: aus Holz gemachte Bänke, auf denen Gäste sitzen, dazu Holztische
[20] für etwas Verwendung finden: etwas brauchen können, einsetzten für etwas