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TED Deutsch, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit | Benedikt Fischer | TEDxLeuphanaUniversityLüneburg

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit | Benedikt Fischer | TEDxLeuphanaUniversityLüneburg

Transkribierer: Anna Piotrkowska Lektorat: Nadine Hennig

Nach dem tollen Improvisationszeug von vorhin,

sollte ich jetzt auch einfach meine Karten von mir werfen

und sagen: "Ganz neues Programm!

Ich erzähle euch was ganz anderes,

wenn wir uns auf die Suche nach der verlorenen Zeit machen,

aber ich bin zu aufgeregt,

deswegen habe ich doch alle meine Karten dabei.

Ich versuche euch durch meine Ideen zu führen.

Vor ein paar Tagen

erzählte mir ein guter Freund,

dass seine jüngeren Geschwister

neuerdings nicht mehr von den Eltern

für Klavierunterricht und Fußball abgeholt werden,

sondern von einem der neuen Fahrdienste,

die per Smartphone-App funktionieren

und der Taxiindustrie mehr und mehr Konkurrenz machen.

Wow, so praktisch, so zeitsparend, so effizient, dachte ich.

Das Beispiel erzählt ziemlich viel von unserer Gesellschafft

und den Werten unserer Gesellschaft.

Einer Gesellschaft, die gerne effizient ist,

fortschrittlich, pragmatisch, schnell, produktiv und technologisch.

Denn Zeit ist wertvoll.

Deshalb haben wir in den letzten Jahrzehnten

immer mehr Technologien und Lösungen gefunden,

um uns noch effizienter und noch produktiver zu machen.

Und trotzdem können wir genau in dieser Gesellschaft

eine paradoxe Beobachtung machen.

Menschen um uns herum, oft wir selbst,

sind zunehmend gestresst, ausgebrannt und arm an Zeit.

Zeit, und damit der gestresste, moderne Mensch,

ist ein vielfach diskutiertes Thema.

Aber von einem sehr normativen Standpunkt aus, wie ich finde.

Denn überall sehen wir den Imperativ:

Sei effizient! Nutze deine Zeit!

Sogar wenn es um uns selbst geht.

Für die Zeit, wenn wir allein sind, uns ausruhen,

haben wir Begriffe kreiert,

wie "quality time", "me time" oder "down time",

die eigentlich nur Teil von genau diesem Effizienzgedanken sind.

Überall erliegen wir dem sozialen Druck,

sich einzupassen, fit zu bleiben,

informiert zu sein oder intelligent zu wirken.

Das Glück der Langeweile haben wir aus unserem Alltag verbannt.

Denn die Langeweile ist langweilig.

Ich wollte mehr über das Thema verstehen,

begann zu lesen und lernte:

Wir leben nicht nur in Kulturen

unterschiedlicher Sprachen, Land und Gewohnheiten,

sondern auch unterschiedlich im Umgang und der Wertschätzung von Zeit.

Ich habe mich in zwei sehr unterschiedliche Zeitkulturen aufgemacht,

ins kalifornische Silicon Valley und in südostasiatische Burma,

wo ich Menschen beobachtet habe.

Silicon Valley ist eine nach Effizienz strebende Gesellschaft.

Die Technologien dort sind tief verankert im Alltag der Menschen.

Es ist eine 24-Stunden-Gesellschaft,

die dicht vertaktet ist und wo Verabredung nach der Uhr funktionieren.

Burma hingegen ist eine Agrarwirtschaft

mit starken familiären Strukturen,

mit einer religiösen buddhistischen Gesellschaft.

Der Rhythmus der Natur,

Tages- und Nachtszeit und auch die Ernte

geben noch immer sehr stark den Rhythmus vor --

genauso für Verabredungen.

Ich habe auf meiner Reise 6 Personen getroffen,

und ich möchte gerne, dass ihr sie heute Abend kennenlernt.

Alex ist Datenanalyst bei Google.

Wenn Alex morgens aufwacht, dann klingelt sein iPhone,

draußen scheint bereits die Sonne

und er fängt an, in seinem Bett E-Mails zu beantworten und zu lesen.

Die Arbeit folgt Alex bis ins Schlafzimmer.

Wenn er mit dem Google-Bus zum Büro fährt,

ist er mit dem WLAN verbunden.

Auch im Stau kann er ohne Weiteres produktiv sein.

Für den Abend wird noch eine kleine private Verabredung organisiert.

Der ganze Tag ist durchgeplant.

Schon bald wird Alex einen neuen Job, ein neues Team haben,

denn Karrierewege im Silicon Valley sind schnelllebig.

Koni auf der anderen Seite ist ein Reisbauer in Burma.

Er wird morgens vom Sonnenlicht geweckt.

Die Kühe sind hungrig und wollen gefüttert werden.

Er macht den Holzpflug fertig, um aufs Feld hinauszugehen,

bevor die Temperaturen zu heiß werden.

Als wir draußen auf dem Feld sind,

entdecken wir einen Traktor in der Ferne.

Koni reagiert ambivalent, fast schon verängstigt.

Ich frage mich: Weiß er wie viel schneller und wie viel effizienter

dieser Traktor sein Feld pflügen könnte?

Aber Koni zeigt keine Reaktion von Neid --

im Gegenteil.

Ich glaube, er hat noch nichts von Mikrokrediten gehört,

die seinem Dorf erlauben würden,

ein solches Gerät zu kaufen.

Koni sagt: Er war immer Reisbauer und wird immer Reisbauer bleiben.

Während ich im Silicon Valley die Leute gefragt habe,

in welche Kategorien sie ihre 24 Stunden am Tag einsortieren würden,

konnten sie mir ganz viele Kategorien nennen:

"work time social", "work time alone", "free time", "transit time".

In Burma stößt die Frage auf große Verwirrung.

Meine 24 Stunden bestehen aus Tag und Nacht, sagt Koni.

Steve ist Produktmanager.

Sein Mittagessen heute ist ein Arbeitslunch.

Genau verabredet, Beginn und Ende im Kalender festgesetzt,

ganz unabhängig davon,

ob die eigentliche Tätigkeit am Ende beendet ist.

Mutlitasking zwischen verschiedenen Projekten, die jeweils am Laufen sind

und sich immer weiter entwickeln, ist für ihn Alltag.

Nach dem Mittagessen wird noch schnell mit seiner Freundin telefoniert.

Immer wieder springt er hin und her

zwischen privaten und beruflichen Aufgaben.

Auch Steve ist Anhänger der Quantified-Self-Bewegung.

Mit seinem digitalen Armband

kann er seine Bewegung, sein Essverhalten, sein Schlafverhalten

genau aufzeichnen und damit seine Zeitnutzung optimieren.

Vor allem weiß er aber,

wie er seine Zeit genutzt, wie er seine Zeit investiert hat.

Ashin Vilasa hingegen ist ein Mönch.

Diesen Mittag starrt er 20 Minuten lang aus dem Fenster.

Als ich ihn in der Ecke eines Hauses entdecke,

beobachte ich ihn die ganze Zeit

und werde dabei selbst extrem nervös.

(Lachen)

Was macht er dort?

Später frage ich ihn, ob er meditiert hat?

Für mich die einzig plausible Erklärung,

jetzt wo alle Yoga machen.

Er sagt nein, er habe einfach aus dem Fenster geschaut.

So unverplant -- solch eine Unerwartungshaltung --

wie Ashin Vilasa seine freie Zeit verbringt, macht Simon das nicht.

Simon ist Start-up-CEO und er ist heute Abend im Fitnessstudio.

Er weiß ziemlich genau, warum er hier ist.

Weil er fit bleiben möchte.

So wie Simon fünfmal pro Woche

seine freie Zeit auf geplante Art und Weise verbringt,

tun es viele Menschen in den westlichen Industriegesellschaften.

Auch unsere Freizeit ist am Ende ein Investment

und wir wissen oft ziemlich genau,

welchen Gewinn und welchen Mehrwert wir uns daraus erhoffen.

Choso hingegen ist eine Ladenbesitzerin in Burma.

Ihre Familie hat einen Fernseher,

am liebsten schauen sie "soap operas".

Sie sind in Burma Ausdruck des modernen Lebens

und mit ihnen kommt die Idee von geplanten Freizeitaktivitäten

zu ihnen nach Hause ins Wohnzimmer.

Choso selbst sagt, sie langweile sich sehr oft.

Ihre eigene Zeitkultur kennt keine geplanten Freizeitaktivitäten.

Choso ist heute Abend ziemlich müde.

Sie schließt gerade ihren Laden

und ich frage sie, was die Eröffnungszeiten sind.

Verwundert schaut sie mich an.

Sie öffne am Morgen, sie schließe am Abend.

Eine Uhr hat Choso nicht.

Wo auch immer wir herkommen,

wir sind Bürger einer Zeitkultur,

und uns häufig nicht bewusst, wie unsere Umwelt, wie unsere Zeitkultur

eigentlich unseren Umgang und unsere Entscheidungen

über Zeit definieren.

Forscher und Professoren,

zum Beispiel der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, sagen:

"Es gibt keinen Weg aus der eigenen Zeitkultur auszubrechen.

Wenn du E-Mails und Anrufe nicht beantwortest,

dann verlierst du deinen Job.

Wenn du nicht genung publizierst, verlierst du deinen Ruf,

du wirst zum Versager."

Sie sagen: "Wellness-Industrie, Yogakulturen, 'Sabbaticals'

sind am Ende nur systemische Auszeiten,

kleine Wellness-Illusionen,

um am Ende noch besser Leistung zu erbringen,

um am Ende noch effizienter zu sein

und noch entspannter von A nach B zu rasen.

Kein wirklicher Ausbruch also

aus einem System der dauernden Selbstoptimierung.

Ich glaube, ob der Druck, in der Tech-Szene produktiv zu sein,

oder der Druck einer Tradition,

oder einer von Tradition geprägten religiösen Gesellschaft,

oder beides zusammen --

der Schlüssel, um sich selbst richtig in der Zeit zu führen

und ein Stück weit auch damit bei sich selbst zu sein,

ist es sich den Werten unserer jeweiligen Zeitkultur bewusst zu sein,

und sich zu fragen, wie diese Werte

unser individuelles Zeitverständnis eigentlich prägen.

Das heißt, das Zentrale ist eigentlich hinterfragen.

Was sind die Werte meiner Zeitkultur?

Stimme ich mit ihnen überein?

Und wenn nicht, wie schaffe ich Raum für meine eigenen Ideen.

Was ist meine individuelle Zeitkultur?

Diese Frage zu stellen, glaube ich, ist schwer.

Und ich glaube es bedarf Mut,

weil wir nicht immer unmittelbar Antworten darauf finden --

was wir in unserer Informationsgesellschaft

nicht mehr wirklich gewohnt sind.

Wir müssen meistens nur das richtige Suchwort kennen.

Viele Formate und Nachrichten erscheinen in kurzer und knapper Form.

Auch ich sollte mich heute Abend besser kurz halten.

Bereits das Stellen dieser Fragen:

Das Hinterfragen der eigenen Zeitkultur,

ohne unmittelbare Antwort, ist sinnvoll.

Zwei Gedanken dazu:

Für die Zeit, die wir in der Familie verbringen,

schreibt unsere Zeitkultur

Männern und Frauen sehr unterschiedliche Wertigkeiten zu.

Ein Grund übrigens, weshalb die Forschung bereits jetzt überlegt,

nur noch Familien insgesamt auf ihre Zeitbudgets zu untersuchen.

Das Hinterfragen von dieser Zeitkultur,

von unserer Zeitkultur, würde uns erlauben,

von aufoktroyierten Werten Distanz zu nehmen

und Familienleben wirklich so zu gestalten, wie wir es wollen.

Und zweitens:

Unsere Zeitkultur favorisiert geplante, verabredete Freitzeitaktivitäten,

die der Selbstoptimierung am Ende dienen,

so wie Sport, Lesen und Lernen.

Herumschlendern, Beobachten, Nachdenken und Reflektieren,

ohne Sinn und Ziel, zumindest am Anfang,

werden tendenziell abgewertet.

Und das entspricht eigentlich am Ende dem Kern unserer Zeitkultur,

nämlich immer genau wissen zu müssen,

warum wir unsere Zeit so verbringen, wie wir es tun.

Würden wir ein bisschen Abstand zu unserer Zeitkultur gewinnen,

könnten wir Zeit auf eine Art verbringen,

ohne den unmittelbaren Mehrwert immer kennen zu müssen.

Ich will kurz zurück kommen auf das Anfangsbeispiel von der Kinderabholung --

effizient und zeitsparend, ja.

Aber ich erinnere mich an die Momente,

wenn ich mit meinen Eltern gelangweilt im Stau stand.

Und teilweise zuvor womöglich abgeholt wurde, auch vom Fußball oder Klavier,

und es dort eben vertraute und ehrliche Momente manchmal gab,

an den man tatsächlich was über den anderen erfahren hat,

aber eben ohne sich für "quality time" zu verabreden,

oder in den nächsten Familienurlaub

mit großen Erwartungen zu überfrachten.

Mit seinen Eltern im Stau im Auto zu stehen, ist ziemlich banal.

Aber ich glaube genau, weil es so banal ist,

kann der Moment so wertvoll sein.

Keine durch eine Zeitkultur aufgestülpten Erwartungen,

Raum für Unerwartetes in einer Gesellschaft,

die ansonsten durchgetaktet

und auf Effizienz und Produktivität ausgerichtet ist.

Was ich von meiner Reise mitnehme?

Ich glaube, es bedarf heutzutage tatsächlich Mut,

nicht immer zu wissen,

was der unmittelbare Mehrwert unserer Zeit ist.

Erst das schafft Raum für Unerwartetes und für wirklich Wertvolles.

(Applaus)

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