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Alice's Abenteur im Wunderland, Zwölftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Zwölftes Kapitel.

Alice ist die Klügste.

»Hier!« rief Alice, in der augenblicklichen Erregung ganz vergessend,

wie sehr sie die letzten Minuten gewachsen war; sie sprang in solcher

Eile auf, daß sie mit ihrem Rock das Pult vor sich umstieß, so daß alle

Geschworne auf die Köpfe der darunter sitzenden Versammlung fielen. Da

lagen sie unbehülflich umher und erinnerten sie sehr an ein Glas mit

Goldfischen, das sie die Woche vorher aus Versehen umgestoßen hatte.

»Oh, ich _bitte_ um Verzeihung,« rief sie mit sehr bestürztem Tone, und

fing an, sie so schnell wie möglich aufzunehmen; denn der Unfall mit den

Goldfischen lag ihr noch im Sinne, und sie hatte eine unbestimmte Art

Vorstellung, als ob sie gleich gesammelt und wieder in ihr Pult gethan

werden müßten, sonst würden sie sterben.

[Illustration]

»Das Verhör kann nicht fortgesetzt werden,« sagte der König sehr ernst,

»bis alle Geschworne wieder an ihrem rechten Platze sind -- _alle_,«

wiederholte er mit großem Nachdrucke, und sah dabei Alice fest an.

Alice sah sich nach dem Pulte um und bemerkte, daß sie in der Eile die

Eidechse kopfunten hineingestellt hatte, und das arme kleine Ding

bewegte den Schwanz trübselig hin und her, da es sich übrigens nicht

rühren konnte. Sie zog es schnell wieder heraus und stellte es richtig

hinein. »Es hat zwar nichts zu bedeuten,« sagte sie für sich, »ich

glaube, es würde für das Verhör ganz eben so nützlich sein kopfoben wie

kopfunten.«

Sobald sich die Geschwornen etwas von dem Schreck erholt hatten,

umgeworfen worden zu sein, und nachdem ihre Tafeln und Tafelsteine

gefunden und ihnen zurückgegeben worden waren, machten sie sich eifrig

daran, die Geschichte ihres Unfalles aufzuschreiben, alle außer der

Eidechse, welche zu angegriffen war, um etwas zu thun; sie saß nur mit

offnem Maule da und starrte die Saaldecke an.

»Was weißt du von dieser Angelegenheit?« fragte der König Alice.

»Nichts!« sagte Alice.

»Durchaus nichts?« drang der König in sie.

»Durchaus nichts!« sagte Alice.

»Daß ist sehr wichtig,« sagte der König, indem er sich an die

Geschwornen wandte. Sie wollten dies eben auf ihre Tafeln schreiben,

als das weiße Kaninchen ihn unterbrach. »Unwichtig, meinten Eure

Majestät natürlich!« sagte es in sehr ehrfurchtsvollem Tone, wobei es

ihn aber mit Stirnrunzeln und verdrießlichem Gesichte ansah.

»_Un_wichtig, natürlich, meinte ich,« bestätigte der König eilig, und fuhr

mit halblauter Stimme für sich fort: »wichtig -- unwichtig -- unwichtig

-- wichtig --« als ob er versuchte, welches Wort am besten klänge.

Einige der Geschwornen schrieben auf »wichtig«, und einige »unwichtig.«

Alice konnte dies sehen, da sie nahe genug war, um ihre Tafeln zu

überblicken; »aber es kommt nicht das Geringste darauf an,« dachte sie

bei sich.

In diesem Augenblick rief der König, der eifrig in seinem Notizbuch

geschrieben hatte, plötzlich aus: »Still!« und las dann aus seinem Buche

vor: »Zweiundvierzigstes Gesetz. _Alle Personen, die mehr als eine Meile

hoch sind, haben den Gerichtshof zu verlassen_.

Alle sahen Alice an.

»Ich _bin_ keine Meile groß,« sagte Alice.

»Das bist du wohl,« sagte der König.

»Beinahe zwei Meilen groß,« fügte die Königin hinzu.

»Auf jeden Fall werde ich nicht fortgehen,« sagte Alice, »übrigens ist

das kein regelmäßiges Gesetz; Sie haben es sich eben erst ausgedacht.«

»Es ist das älteste Gesetz in dem Buche,« sagte der König.

»Dann müßte es Nummer Eins sein,« sagte Alice.

Der König erbleichte und machte sein Notizbuch schnell zu. »Gebt euer

Urtheil ab!« sagte er leise und mit zitternder Stimme zu den

Geschwornen.

»Majestät halten zu Gnaden, es sind noch mehr Beweise aufzunehmen,«

sagte das weiße Kaninchen, indem es eilig aufsprang; »dieses Papier ist

soeben gefunden worden.«

»Was enthält es?« fragte die Königin.

»Ich habe es noch nicht geöffnet,« sagte das weiße Kaninchen, »aber es

scheint ein Brief von dem Gefangenen an -- an Jemand zu sein.«

»Ja, das wird es wohl sein,« sagte der König, »wenn es nicht an Niemand

ist, was, wie bekannt nicht oft vorkommt.«

»An wen ist es adressirt?« fragte einer der Geschwornen.

»Es ist gar nicht adressirt,« sagte das weiße Kaninchen; »überhaupt

steht auf der _Außenseite_ gar nichts.« Es faltete bei diesen Worten das

Papier auseinander und sprach weiter: »Es ist übrigens gar kein Brief,

es sind Verse.«

»Sind sie in der Handschrift des Gefangenen?« fragte ein anderer

Geschworner.

»Nein, das sind sie nicht,« sagte das weiße Kaninchen, »und das ist das

Merkwürdigste dabei.« (Die Geschwornen sahen alle ganz verdutzt aus.)

»Er muß eines Andern Handschrift nachgeahmt haben,« sagte der König.

(Die Gesichter der Geschwornen klärten sich auf.)

»Eure Majestät halten zu Gnaden,« sagte der Bube, »ich habe es nicht

geschrieben, und Niemand kann beweisen, daß ich es geschrieben haben, es

ist keine Unterschrift darunter.«

»Wenn du es nicht unterschrieben hast,« sagte der König, »so macht das

die Sache nur schlimmer. Du mußt schlechte Absichten dabei gehabt haben,

sonst hättest du wie ein ehrlicher Mann deinen Namen darunter gesetzt.«

Hierauf folgte allgemeines Beifallklatschen; es war der erste wirklich

kluge Ausspruch, den der König an dem Tage gethan hatte.

»Das _beweist_ seine Schuld,« sagte die Königin.

»Es beweist durchaus gar nichts!« sagte Alice, »Ihr wißt ja noch nicht

einmal, worüber die Verse sind!«

»Lies sie!« sagte der König.

Das weiße Kaninchen setzte seine Brille auf. »Wo befehlen Eure Majestät,

daß ich anfangen soll?« fragte es.

»Fange beim Anfang an,« sagte der König ernsthaft, »und lies bis du an's Ende kommst, dann halte an.«

Dies waren die Verse, welche das weiße Kaninchen vorlas: --

»Ich höre ja du warst bei ihr,

Und daß er mir es gönnt;

Sie sprach, sie hielte viel von mir,

Wenn ich nur schwimmen könnt'! Er schrieb an sie, ich ginge nicht

(Nur wußten wir es gleich):

Wenn ihr viel an der Sache liegt,

Was würde dann aus euch?

Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei,

Ihr gabt uns drei Mal vier;

Jetzt sind sie hier, er steht dabei;

Doch alle gehörten erst mir.

Würd' ich und sie vielleicht darein Verwickelt und verfahren,

Vertraut er dir, sie zu befrei'n, Gerade wie wir waren.

Ich dachte schon in meinem Sinn,

Eh' sie den Anfall hätt', Ihr wär't derjenige, der ihn, Es und uns hindertet.

Sag' ihm um keinen Preis, daß ihr Die Andern lieber war'n; Denn keine Seele außer dir

Und mir darf dies erfahr'n.« »Das ist das wichtigste Beweisstück, das wir bis jetzt gehört haben,«

sagte der König, indem er sich die Hände rieb; »laßt also die

Geschwornen --«

»Wenn es Einer von ihnen erklären kann,« sagte Alice (sie war die

letzten Paar Minuten so sehr gewachsen, daß sie sich gar nicht

fürchtete, ihn zu unterbrechen), »so will ich ihm sechs Dreier schenken.

Ich finde, daß auch keine Spur von Sinn darin ist.«

Die Geschwornen schrieben Alle auf ihre Tafeln: »Sie findet, daß auch

keine Spur von Sinn darin ist;« aber keiner von ihnen versuchte, das

Schriftstück zu erklären.

»Wenn kein Sinn darin ist,« sagte der König, »das spart uns ja ungeheuer

viel Arbeit; dann haben wir nicht nöthig, ihn zu suchen. Und dennoch

weiß ich nicht,« fuhr er fort, indem er das Papier auf dem Knie

ausbreitete und es prüfend beäugelte, »es kommt mir vor, als könnte ich

etwas Sinn darin finden. ' -- wenn ich nur schwimmen könnt'!' du kannst

nicht schwimmen, nicht wahr?« wandte er sich an den Buben.

Der Bube schüttelte traurig das Haupt. »Seh' ich etwa danach aus?« (was freilich nicht der Fall war, da er gänzlich aus Papier bestand.)

»Das trifft zu, so weit,« sagte der König und fuhr fort, die Verse leise

durchzulesen. »'Nur wußten wir es gleich' -- das sind die Geschwornen, natürlich -- 'Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei --' ja wohl, so hat er's mit den Kuchen gemacht, versteht sich --« »Aber es geht weiter: 'Jetzt sind sie hier,'« sagte Alice. »Freilich, da sind sie ja! er steht dabei!« sagte der König triumphirend

und wies dabei nach den Kuchen auf dem Tische und nach dem Buben;

»nichts kann klarer sein. Dann wieder -- 'Eh sie den Anfall hätt'' -- du hast nie einen Anfall gehabt, Liebe, glaube ich,« sagte er zu der

Königin.

[Illustration]

»Niemals,« rief die Königin wüthend und warf dabei der Eidechse ein

Tintenfaß an den Kopf. (Der unglückliche kleine Wabbel hatte aufgehört,

mit dem Finger auf seiner Tafel zu schreiben, da er merkte, daß es keine

Spuren hinterließ; doch nun fing er eilig wieder an, indem er die Tinte

benutzte, die von seinem Gesichte herabträufelte, so lange dies

vorhielt.)

»Dann ist dies nicht dein _Fall_,« sagte der König und blickte lächelnd in

dem ganzen Saale herum. Alles blieb todtenstill.

»-- 's ist ja 'n Witz!« fügte der König in ärgerlichem Tone hinzu -- sogleich lachte Jedermann. »Die Geschwornen sollen ihren Ausspruch

thun,« sagte der König wohl zum zwanzigsten Male.

»Nein, nein!« sagte die Königin. »Erst das Urtheil, der Ausspruch der

Geschwornen nachher.«

»Dummer Unsinn!« sagte Alice laut. »Was für ein Einfall, erst das

Urtheil haben zu wollen!«

»Halt den Mund!« sagte die Königin, indem sie purpurroth wurde.

»Ich will nicht!« sagte Alice.

»Schlagt ihr den Kopf ab!« brüllte die Königin so laut sie konnte.

Niemand rührte sich.

»Wer fragt nach euch?« sagte Alice (unterdessen hatte sie ihre volle

Größe erreicht). »Ihr seid nichts weiter als ein Spiel Karten!«

[Illustration]

Bei diesen Worten erhob sich das ganze Spiel in die Luft und flog auf

sie herab; sie schrie auf, halb vor Furcht, halb vor Aerger, versuchte

sie sich abzuwehren und merkte, daß sie am Ufer lag, den Kopf auf dem

Schoße ihrer Schwester, welche leise einige welke Blätter fortnahm, die

ihr von den Bäumen herunter auf's Gesicht gefallen waren. »Wach auf, liebe Alice!« sagte ihre Schwester; »du hast mal lange

geschlafen!«

»O, und ich habe einen so merkwürdigen Traum gehabt!« sagte Alice, und

sie erzählte ihrer Schwester, so gut sie sich errinnern konnte, alle die

seltsamen Abenteuer, welche ihr eben gelesen habt. Als sie fertig war,

gab ihre Schwester ihr einen Kuß und sagte: »Es _war_ ein sonderbarer

Traum, das ist gewiß; aber nun lauf hinein zum Thee, es wird spät.« Da

stand Alice auf und rannte fort, und dachte dabei, und zwar mit Recht,

daß es doch ein wunderschöner Traum gewesen sei.

* * * * *

Aber ihre Schwester blieb sitzen, wie sie sie verlassen hatte, den Kopf

auf die Hand gestützt, blickte in die untergehende Sonne und dachte an

die kleine Alice und ihre wunderbaren Abenteuer, bis auch sie auf ihre

Weise zu träumen anfing, und dies war ihr Traum:

Zuerst träumte sie von der kleinen Alice selbst: wieder sah sie die

kleinen Händchen zusammengefaltet auf ihrem Knie, und die klaren

sprechenden Augen, die zu ihr aufblickten -- sie konnte selbst den Ton

ihrer Stimme hören und das komische Zurückwerfen des kleinen Köpfchens

sehen, womit sie die einzelnen Haare abschüttelte, die ihr immer wieder

in die Augen kamen -- und jemehr sie zuhörte oder zuzuhören meinte, desto

mehr belebte sich der ganze Platz um sie herum mit den seltsamen

Geschöpfen aus ihrer kleinen Schwester Traum.

Das lange Gras zu ihren Füßen rauschte, da das weiße Kaninchen

vorbeihuschte -- die erschrockene Maus plätscherte durch den nahen Teich

-- sie konnte das Klappern der Theetassen hören, wo der Faselhase und

seine Freunde ihre immerwährende Mahlzeit hielten, und die gellende

Stimme der Königin, die ihre unglücklichen Gäste zur Hinrichtung

abschickte -- wieder nieste das Ferkel-Kind auf dem Schoße der Herzogin,

während Pfannen und Schüsseln rund herum in Scherben brachen -- wieder

erfüllten der Schrei des Greifen, das Quieken von dem Tafelstein der

Eidechse und das Stöhnen des unterdrückten Meerschweinchens die Luft und

vermischten sich mit dem Schluchzen der unglücklichen falschen

Schildkröte in der Entfernung.

So saß sie da, mit geschlossenen Augen, und glaubte fast, sie sei im

Wunderlande, obgleich sie ja wußte, daß sobald sie die Augen öffnete,

Alles wieder zur alltäglichen Wirklichkeit werden würde; das Gras würde

dann nur im Winde rauschen, der Teich mit seinem Rieseln das Wogen des

Rohres begleiten; das Klappern der Theetassen würde sich in klingende

Heerdenglocken verwandeln und die gellende Stimme der Königin in die

Rufe des Hirtenknaben -- und das Niesen des Kindes, das Geschrei des

Greifen und all die andern außerordentlichen Töne würden sich (das wußte

sie) in das verworrene Getöse des geschäftigen Gutshofes verwandeln --

während sie statt des schwermüthigen Schluchzens der falschen

Schildkröte in der Ferne das wohlbekannte Brüllen des Rindviehes hören

würde.

Endlich malte sie sich aus, wie ihre kleine Schwester Alice in späterer

Zeit selbst erwachsen sein werde; und wie sie durch alle reiferen Jahre

hindurch das einfache liebevolle Herz ihrer Kindheit bewahren, und wie

sie andere kleine Kinder um sich versammeln und _deren_ Blicke neugierig

und gespannt machen werde mit manch einer wunderbaren Erzählung,

vielleicht sogar mit dem Traume vom Wunderlande aus alten Zeiten; und

wie sie alle ihre kleinen Sorgen nachfühlen, sich über alle ihre kleinen

Freuden mitfreuen werde in der Erinnerung an ihr eigenes Kindesleben und

die glücklichen Sommertage.


Zwölftes Kapitel Chapter Twelve

Zwölftes Kapitel.

Alice ist die Klügste.

»Hier!« rief Alice, in der augenblicklichen Erregung ganz vergessend,

wie sehr sie die letzten Minuten gewachsen war; sie sprang in solcher

Eile auf, daß sie mit ihrem Rock das Pult vor sich umstieß, so daß alle

Geschworne auf die Köpfe der darunter sitzenden Versammlung fielen. Da

lagen sie unbehülflich umher und erinnerten sie sehr an ein Glas mit

Goldfischen, das sie die Woche vorher aus Versehen umgestoßen hatte.

»Oh, ich _bitte_ um Verzeihung,« rief sie mit sehr bestürztem Tone, und

fing an, sie so schnell wie möglich aufzunehmen; denn der Unfall mit den

Goldfischen lag ihr noch im Sinne, und sie hatte eine unbestimmte Art

Vorstellung, als ob sie gleich gesammelt und wieder in ihr Pult gethan

werden müßten, sonst würden sie sterben.

[Illustration]

»Das Verhör kann nicht fortgesetzt werden,« sagte der König sehr ernst,

»bis alle Geschworne wieder an ihrem rechten Platze sind -- _alle_,«

wiederholte er mit großem Nachdrucke, und sah dabei Alice fest an.

Alice sah sich nach dem Pulte um und bemerkte, daß sie in der Eile die

Eidechse kopfunten hineingestellt hatte, und das arme kleine Ding

bewegte den Schwanz trübselig hin und her, da es sich übrigens nicht

rühren konnte. Sie zog es schnell wieder heraus und stellte es richtig

hinein. »Es hat zwar nichts zu bedeuten,« sagte sie für sich, »ich

glaube, es würde für das Verhör ganz eben so nützlich sein kopfoben wie

kopfunten.«

Sobald sich die Geschwornen etwas von dem Schreck erholt hatten,

umgeworfen worden zu sein, und nachdem ihre Tafeln und Tafelsteine

gefunden und ihnen zurückgegeben worden waren, machten sie sich eifrig

daran, die Geschichte ihres Unfalles aufzuschreiben, alle außer der

Eidechse, welche zu angegriffen war, um etwas zu thun; sie saß nur mit

offnem Maule da und starrte die Saaldecke an.

»Was weißt du von dieser Angelegenheit?« fragte der König Alice.

»Nichts!« sagte Alice.

»Durchaus nichts?« drang der König in sie.

»Durchaus nichts!« sagte Alice.

»Daß ist sehr wichtig,« sagte der König, indem er sich an die

Geschwornen wandte. Sie wollten dies eben auf ihre Tafeln schreiben,

als das weiße Kaninchen ihn unterbrach. »Unwichtig, meinten Eure

Majestät natürlich!« sagte es in sehr ehrfurchtsvollem Tone, wobei es

ihn aber mit Stirnrunzeln und verdrießlichem Gesichte ansah.

»_Un_wichtig, natürlich, meinte ich,« bestätigte der König eilig, und fuhr

mit halblauter Stimme für sich fort: »wichtig -- unwichtig -- unwichtig

-- wichtig --« als ob er versuchte, welches Wort am besten klänge.

Einige der Geschwornen schrieben auf »wichtig«, und einige »unwichtig.«

Alice konnte dies sehen, da sie nahe genug war, um ihre Tafeln zu

überblicken; »aber es kommt nicht das Geringste darauf an,« dachte sie

bei sich.

In diesem Augenblick rief der König, der eifrig in seinem Notizbuch

geschrieben hatte, plötzlich aus: »Still!« und las dann aus seinem Buche

vor: »Zweiundvierzigstes Gesetz. _Alle Personen, die mehr als eine Meile

hoch sind, haben den Gerichtshof zu verlassen_.

Alle sahen Alice an.

»Ich _bin_ keine Meile groß,« sagte Alice.

»Das bist du wohl,« sagte der König.

»Beinahe zwei Meilen groß,« fügte die Königin hinzu.

»Auf jeden Fall werde ich nicht fortgehen,« sagte Alice, »übrigens ist

das kein regelmäßiges Gesetz; Sie haben es sich eben erst ausgedacht.«

»Es ist das älteste Gesetz in dem Buche,« sagte der König.

»Dann müßte es Nummer Eins sein,« sagte Alice.

Der König erbleichte und machte sein Notizbuch schnell zu. »Gebt euer

Urtheil ab!« sagte er leise und mit zitternder Stimme zu den

Geschwornen.

»Majestät halten zu Gnaden, es sind noch mehr Beweise aufzunehmen,«

sagte das weiße Kaninchen, indem es eilig aufsprang; »dieses Papier ist

soeben gefunden worden.«

»Was enthält es?« fragte die Königin.

»Ich habe es noch nicht geöffnet,« sagte das weiße Kaninchen, »aber es

scheint ein Brief von dem Gefangenen an -- an Jemand zu sein.«

»Ja, das wird es wohl sein,« sagte der König, »wenn es nicht an Niemand

ist, was, wie bekannt nicht oft vorkommt.«

»An wen ist es adressirt?« fragte einer der Geschwornen.

»Es ist gar nicht adressirt,« sagte das weiße Kaninchen; »überhaupt

steht auf der _Außenseite_ gar nichts.« Es faltete bei diesen Worten das

Papier auseinander und sprach weiter: »Es ist übrigens gar kein Brief,

es sind Verse.«

»Sind sie in der Handschrift des Gefangenen?« fragte ein anderer

Geschworner.

»Nein, das sind sie nicht,« sagte das weiße Kaninchen, »und das ist das

Merkwürdigste dabei.« (Die Geschwornen sahen alle ganz verdutzt aus.)

»Er muß eines Andern Handschrift nachgeahmt haben,« sagte der König.

(Die Gesichter der Geschwornen klärten sich auf.)

»Eure Majestät halten zu Gnaden,« sagte der Bube, »ich habe es nicht

geschrieben, und Niemand kann beweisen, daß ich es geschrieben haben, es

ist keine Unterschrift darunter.«

»Wenn du es nicht unterschrieben hast,« sagte der König, »so macht das

die Sache nur schlimmer. Du mußt schlechte Absichten dabei gehabt haben,

sonst hättest du wie ein ehrlicher Mann deinen Namen darunter gesetzt.«

Hierauf folgte allgemeines Beifallklatschen; es war der erste wirklich

kluge Ausspruch, den der König an dem Tage gethan hatte.

»Das _beweist_ seine Schuld,« sagte die Königin.

»Es beweist durchaus gar nichts!« sagte Alice, »Ihr wißt ja noch nicht

einmal, worüber die Verse sind!«

»Lies sie!« sagte der König.

Das weiße Kaninchen setzte seine Brille auf. »Wo befehlen Eure Majestät,

daß ich anfangen soll?« fragte es.

»Fange beim Anfang an,« sagte der König ernsthaft, »und lies bis du an's Ende kommst, dann halte an.«

Dies waren die Verse, welche das weiße Kaninchen vorlas: --

»Ich höre ja du warst bei ihr,

Und daß er mir es gönnt;

Sie sprach, sie hielte viel von mir,

Wenn ich nur schwimmen könnt'! Er schrieb an sie, ich ginge nicht

(Nur wußten wir es gleich):

Wenn ihr viel an der Sache liegt,

Was würde dann aus euch?

Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei,

Ihr gabt uns drei Mal vier;

Jetzt sind sie hier, er steht dabei;

Doch alle gehörten erst mir.

Würd' ich und sie vielleicht darein Verwickelt und verfahren,

Vertraut er dir, sie zu befrei'n, Gerade wie wir waren.

Ich dachte schon in meinem Sinn,

Eh' sie den Anfall hätt', Ihr wär't derjenige, der ihn, Es und uns hindertet.

Sag' ihm um keinen Preis, daß ihr Die Andern lieber war'n; Denn keine Seele außer dir

Und mir darf dies erfahr'n.« »Das ist das wichtigste Beweisstück, das wir bis jetzt gehört haben,«

sagte der König, indem er sich die Hände rieb; »laßt also die

Geschwornen --«

»Wenn es Einer von ihnen erklären kann,« sagte Alice (sie war die

letzten Paar Minuten so sehr gewachsen, daß sie sich gar nicht

fürchtete, ihn zu unterbrechen), »so will ich ihm sechs Dreier schenken.

Ich finde, daß auch keine Spur von Sinn darin ist.«

Die Geschwornen schrieben Alle auf ihre Tafeln: »Sie findet, daß auch

keine Spur von Sinn darin ist;« aber keiner von ihnen versuchte, das

Schriftstück zu erklären.

»Wenn kein Sinn darin ist,« sagte der König, »das spart uns ja ungeheuer

viel Arbeit; dann haben wir nicht nöthig, ihn zu suchen. Und dennoch

weiß ich nicht,« fuhr er fort, indem er das Papier auf dem Knie

ausbreitete und es prüfend beäugelte, »es kommt mir vor, als könnte ich

etwas Sinn darin finden. ' -- wenn ich nur schwimmen könnt'!' du kannst

nicht schwimmen, nicht wahr?« wandte er sich an den Buben.

Der Bube schüttelte traurig das Haupt. »Seh' ich etwa danach aus?« (was freilich nicht der Fall war, da er gänzlich aus Papier bestand.)

»Das trifft zu, so weit,« sagte der König und fuhr fort, die Verse leise

durchzulesen. »'Nur wußten wir es gleich' -- das sind die Geschwornen, natürlich -- 'Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei --' ja wohl, so hat er's mit den Kuchen gemacht, versteht sich --« »Aber es geht weiter: 'Jetzt sind sie hier,'« sagte Alice. »Freilich, da sind sie ja! er steht dabei!« sagte der König triumphirend

und wies dabei nach den Kuchen auf dem Tische und nach dem Buben;

»nichts kann klarer sein. Dann wieder -- 'Eh sie den Anfall hätt'' -- du hast nie einen Anfall gehabt, Liebe, glaube ich,« sagte er zu der

Königin.

[Illustration]

»Niemals,« rief die Königin wüthend und warf dabei der Eidechse ein

Tintenfaß an den Kopf. (Der unglückliche kleine Wabbel hatte aufgehört,

mit dem Finger auf seiner Tafel zu schreiben, da er merkte, daß es keine

Spuren hinterließ; doch nun fing er eilig wieder an, indem er die Tinte

benutzte, die von seinem Gesichte herabträufelte, so lange dies

vorhielt.)

»Dann ist dies nicht dein _Fall_,« sagte der König und blickte lächelnd in

dem ganzen Saale herum. Alles blieb todtenstill.

»-- 's ist ja 'n Witz!« fügte der König in ärgerlichem Tone hinzu -- sogleich lachte Jedermann. »Die Geschwornen sollen ihren Ausspruch

thun,« sagte der König wohl zum zwanzigsten Male.

»Nein, nein!« sagte die Königin. »Erst das Urtheil, der Ausspruch der

Geschwornen nachher.«

»Dummer Unsinn!« sagte Alice laut. »Was für ein Einfall, erst das

Urtheil haben zu wollen!«

»Halt den Mund!« sagte die Königin, indem sie purpurroth wurde.

»Ich will nicht!« sagte Alice.

»Schlagt ihr den Kopf ab!« brüllte die Königin so laut sie konnte.

Niemand rührte sich.

»Wer fragt nach euch?« sagte Alice (unterdessen hatte sie ihre volle

Größe erreicht). »Ihr seid nichts weiter als ein Spiel Karten!«

[Illustration]

Bei diesen Worten erhob sich das ganze Spiel in die Luft und flog auf

sie herab; sie schrie auf, halb vor Furcht, halb vor Aerger, versuchte

sie sich abzuwehren und merkte, daß sie am Ufer lag, den Kopf auf dem

Schoße ihrer Schwester, welche leise einige welke Blätter fortnahm, die

ihr von den Bäumen herunter auf's Gesicht gefallen waren. »Wach auf, liebe Alice!« sagte ihre Schwester; »du hast mal lange

geschlafen!«

»O, und ich habe einen so merkwürdigen Traum gehabt!« sagte Alice, und

sie erzählte ihrer Schwester, so gut sie sich errinnern konnte, alle die

seltsamen Abenteuer, welche ihr eben gelesen habt. Als sie fertig war,

gab ihre Schwester ihr einen Kuß und sagte: »Es _war_ ein sonderbarer

Traum, das ist gewiß; aber nun lauf hinein zum Thee, es wird spät.« Da

stand Alice auf und rannte fort, und dachte dabei, und zwar mit Recht,

daß es doch ein wunderschöner Traum gewesen sei.

*       *       *       *       *

Aber ihre Schwester blieb sitzen, wie sie sie verlassen hatte, den Kopf

auf die Hand gestützt, blickte in die untergehende Sonne und dachte an

die kleine Alice und ihre wunderbaren Abenteuer, bis auch sie auf ihre

Weise zu träumen anfing, und dies war ihr Traum:

Zuerst träumte sie von der kleinen Alice selbst: wieder sah sie die

kleinen Händchen zusammengefaltet auf ihrem Knie, und die klaren

sprechenden Augen, die zu ihr aufblickten -- sie konnte selbst den Ton

ihrer Stimme hören und das komische Zurückwerfen des kleinen Köpfchens

sehen, womit sie die einzelnen Haare abschüttelte, die ihr immer wieder

in die Augen kamen -- und jemehr sie zuhörte oder zuzuhören meinte, desto

mehr belebte sich der ganze Platz um sie herum mit den seltsamen

Geschöpfen aus ihrer kleinen Schwester Traum.

Das lange Gras zu ihren Füßen rauschte, da das weiße Kaninchen

vorbeihuschte -- die erschrockene Maus plätscherte durch den nahen Teich

-- sie konnte das Klappern der Theetassen hören, wo der Faselhase und

seine Freunde ihre immerwährende Mahlzeit hielten, und die gellende

Stimme der Königin, die ihre unglücklichen Gäste zur Hinrichtung

abschickte -- wieder nieste das Ferkel-Kind auf dem Schoße der Herzogin,

während Pfannen und Schüsseln rund herum in Scherben brachen -- wieder

erfüllten der Schrei des Greifen, das Quieken von dem Tafelstein der

Eidechse und das Stöhnen des unterdrückten Meerschweinchens die Luft und

vermischten sich mit dem Schluchzen der unglücklichen falschen

Schildkröte in der Entfernung.

So saß sie da, mit geschlossenen Augen, und glaubte fast, sie sei im

Wunderlande, obgleich sie ja wußte, daß sobald sie die Augen öffnete,

Alles wieder zur alltäglichen Wirklichkeit werden würde; das Gras würde

dann nur im Winde rauschen, der Teich mit seinem Rieseln das Wogen des

Rohres begleiten; das Klappern der Theetassen würde sich in klingende

Heerdenglocken verwandeln und die gellende Stimme der Königin in die

Rufe des Hirtenknaben -- und das Niesen des Kindes, das Geschrei des

Greifen und all die andern außerordentlichen Töne würden sich (das wußte

sie) in das verworrene Getöse des geschäftigen Gutshofes verwandeln --

während sie statt des schwermüthigen Schluchzens der falschen

Schildkröte in der Ferne das wohlbekannte Brüllen des Rindviehes hören

würde.

Endlich malte sie sich aus, wie ihre kleine Schwester Alice in späterer

Zeit selbst erwachsen sein werde; und wie sie durch alle reiferen Jahre

hindurch das einfache liebevolle Herz ihrer Kindheit bewahren, und wie

sie andere kleine Kinder um sich versammeln und _deren_ Blicke neugierig

und gespannt machen werde mit manch einer wunderbaren Erzählung,

vielleicht sogar mit dem Traume vom Wunderlande aus alten Zeiten; und

wie sie alle ihre kleinen Sorgen nachfühlen, sich über alle ihre kleinen

Freuden mitfreuen werde in der Erinnerung an ihr eigenes Kindesleben und

die glücklichen Sommertage.