×

Wir verwenden Cookies, um LingQ zu verbessern. Mit dem Besuch der Seite erklärst du dich einverstanden mit unseren Cookie-Richtlinien.


image

Alice's Abenteur im Wunderland, Neuntes Kapitel

Neuntes Kapitel

Neuntes Kapitel.

Die Geschichte der falschen Schildkröte.

»Du kannst dir gar nicht denken, wie froh ich bin, dich wieder zu sehen,

du liebes altes Herz!« sagte die Herzogin, indem sie Alice liebevoll

unterfaßte, und beide zusammen fortspazierten.

Alice war sehr froh, sie bei so guter Laune zu finden, und dachte bei

sich, es wäre vielleicht nur der Pfeffer, der sie so böse gemacht habe,

als sie sich zuerst in der Küche trafen. »Wenn ich Herzogin bin,« sagte

sie für sich (doch nicht in sehr hoffnungsvollem Tone), »will ich gar

keinen Pfeffer in meiner Küche dulden. Suppe schmeckt sehr gut ohne --

Am Ende ist es immer Pfeffer, der die Leute heftig macht,« sprach sie

weiter, sehr glücklich, eine neue Art Regel erfunden zu haben, »und

Essig, der sie sauertöpfisch macht -- und Kamillenthee, der sie bitter

macht -- und Gerstenzucker und dergleichen, was Kinder zuckersüß macht.

Ich wünschte nur, die großen Leute wüßten das, dann würden sie nicht so

sparsam damit sein --«

Sie hatte unterdessen die Herzogin ganz vergessen und schrak förmlich

zusammen, als sie deren Stimme dicht an ihrem Ohre hörte. »Du denkst an

etwas, meine Liebe, und vergißt darüber zu sprechen. Ich kann dir diesen

Augenblick nicht sagen, was die Moral davon ist, aber es wird mir gleich

einfallen.«

»Vielleicht hat es keine,« hatte Alice den Muth zu sagen.

»Still, still, Kind!« sagte die Herzogin. »Alles hat seine Moral, wenn

man sie nur finden kann.« Dabei drängte sie sich dichter an Alice heran.

Alice mochte es durchaus nicht gern, daß sie ihr so nahe kam: erstens,

weil die Herzogin sehr häßlich war, und zweitens, weil sie gerade groß

genug war, um ihr Kinn auf Alice's Schulter zu stützen, und es war ein unangenehm spitzes Kinn. Da sie aber nicht gern unhöflich sein wollte,

so ertrug sie es, so gut sie konnte.

»Das Spiel ist jetzt besser im Gange,« sagte sie, um die Unterhaltung

fortzuführen.

[Illustration]

»So ist es,« sagte die Herzogin, »und die Moral davon ist -- Mit Liebe

und Gesange hält man die Welt im Gange!«

»Wer sagte denn,« flüsterte Alice, »es geschehe dadurch, daß Jeder vor

seiner Thüre fege.«

»Ah, sehr gut, das bedeutet ungefähr dasselbe,« sagte die Herzogin, und

indem sie ihr spitzes kleines Kinn in Alice's Schulter einbohrte, fügte sie hinzu »und die Moral _davon_ ist -- So viel Köpfe, so viel Sinne.«

»Wie gern sie die Moral von Allem findet!« dachte Alice bei sich.

»Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich meinen Arm nicht um deinen

Hals lege,« sagte die Herzogin nach einer Pause; »die Wahrheit zu

gestehen, ich traue der Laune deines Flamingos nicht ganz. Soll ich es

versuchen?«

»Er könnte beißen,« erwiderte Alice weislich, da sie sich keineswegs

danach sehnte, das Experiment zu versuchen.

»Sehr wahr,« sagte die Herzogin, »Flamingos und Senf beißen beide. Und

die Moral davon ist: Gleich und Gleich gesellt sich gern.«

»Aber der Flamingo ist ja ein Vogel und Senf ist kein Vogel,« wandte

Alice ein.

»Ganz recht, wie immer,« sagte die Herzogin, »wie deutlich du Alles

ausdrücken kannst.«

»Es ist, glaube ich, ein Mineral,« sagte Alice.

»Versteht sich,« sagte die Herzogin, die Allem, was Alice sagte,

beizustimmen schien, »in dem großen Senf-Bergwerk hier in der Gegend

sind ganz vorzüglich gute Minen. Und die Moral davon ist, daß wir gute

Miene zum bösen Spiel machen müssen.«

»O, ich weiß!« rief Alice aus, die die letzte Bemerkung ganz überhört

hatte, »es ist eine Pflanze. Es sieht nicht so aus, aber es ist eine.«

»Ich stimme dir vollkommen bei,« sagte die Herzogin, »und die Moral

davon ist: Sei was du zu scheinen wünschest! -- oder einfacher

ausgedrückt: Bilde dir nie ein verschieden von dem zu sein was Anderen

erscheint daß was du warest oder gewesen sein möchtest nicht verschieden

von dem war daß was du gewesen warest ihnen erschienen wäre als wäre es

verschieden.«

»Ich glaube, ich würde das besser verstehen,« sagte Alice sehr höflich,

»wenn ich es aufgeschrieben hätte; ich kann nicht ganz folgen, wenn Sie

es sagen.«

»Das ist noch gar nichts dagegen, was ich sagen könnte, wenn ich

wollte,« antwortete die Herzogin in selbstzufriedenem Tone.

»Bitte, bemühen Sie sich nicht, es noch länger zu sagen!« sagte Alice.

»O, sprich nicht von Mühe!« sagte die Herzogin, »ich will dir Alles, was

ich bis jetzt gesagt habe, schenken.«

»Eine wohlfeile Art Geschenke!« dachte Alice, »ich bin froh, daß man

nicht solche Geburtstagsgeschenke macht!« Aber sie getraute sich nicht,

es laut zu sagen.

»Wieder in Gedanken?« fragte die Herzogin und grub ihr spitzes kleines

Kinn tiefer ein.

»Ich habe das Recht, in Gedanken zu sein, wenn ich will,« sagte Alice

gereizt, denn die Unterhaltung fing an, ihr langweilig zu werden.

»Gerade so viel Recht,« sagte die Herzogin, »wie Ferkel zum Fliegen, und

die M --«

Aber, zu Alice's großem Erstaunen stockte hier die Stimme der Herzogin, und zwar mitten in ihrem Lieblingsworte »Moral«, und der Arm, der in dem

ihrigen ruhte, fing an zu zittern. Alice sah auf, und da stand die

Königin vor ihnen, mit über der Brust gekreuzten Armen, schwarzblickend

wie ein Gewitter.

»Ein schöner Tag, Majestät!« fing die Herzogin mit leiser schwacher

Stimme an.

»Ich will Sie schön gewarnt haben,« schrie die Königin und stampfte

dabei mit dem Fuße: »Fort augenblicklich, entweder mit Ihnen oder mit

Ihrem Kopfe! Wählen Sie!«

Die Herzogin wählte und verschwand eilig.

»Wir wollen weiter spielen,« sagte die Königin zu Alice, und diese, viel

zu erschrocken, ein Wort zu erwiedern, folgte ihr langsam nach dem

Croquet-Felde.

Die übrigen Gäste hatten die Abwesenheit der Königin benutzt, um im

Schatten auszuruhen; sobald sie sie jedoch kommen sahen, eilten sie

augenblicklich zum Spiele zurück, indem die Königin einfach bemerkte,

daß eine Minute Verzug ihnen das Leben kosten würde.

Die ganze Zeit, wo sie spielten, hörte die Königin nicht auf, mit den

andern Spielern zu zanken und zu schreien: »Schlagt ihm den Kopf ab!«

oder: »Schlagt ihr den Kopf ab!« Diejenigen, welche sie verurtheilt

hatte, wurden von den Soldaten in Verwahrsam geführt, die natürlich dann

aufhören mußten, die Bogen zu bilden, so daß nach ungefähr einer halben

Stunde keine Bogen mehr übrig waren, und alle Spieler, außer dem Könige,

der Königin und Alice, in Verwahrsam und zum Tode verurtheilt waren.

Da hörte die Königin, ganz außer Athem, auf, und sagte zu Alice: »Hast

du die _Falsche Schildkröte_ schon gesehen?«

»Nein,« sagte Alice. »Ich weiß nicht einmal, was eine _Falsche

Schildkröte_ ist.«

»Es ist das, woraus falsche Schildkrötensuppe gemacht wird,« sagte die

Königin.

»Ich habe weder eine gesehen, noch von einer gehört,« sagte Alice.

»Komm schnell,« sagte die Königin, »sie soll dir ihre Geschichte

erzählen.«

Als sie mit einander fortgingen, hörte Alice den König leise zu der

ganzen Versammlung sagen: »Ihr seid Alle begnadigt!« »Ach, das ist ein

Glück!« sagte sie für sich, denn sie war über die vielen Enthauptungen,

welche die Königin angeordnet hatte, ganz außer sich gewesen.

Sie kamen bald zu einem Greifen, der in der Sonne lag und schlief. (Wenn

ihr nicht wißt, was ein Greif ist, seht euch das Bild an.) »Auf, du

Faulpelz,« sagte die Königin, »und bringe dies kleine Fräulein zu der

falschen Schildkröte, sie möchte gern ihre Geschichte hören. Ich muß

zurück und nach einigen Hinrichtungen sehen, die ich angeordnet habe;«

damit ging sie fort und ließ Alice mit dem Greifen allein. Der Anblick

des Thieres gefiel Alice nicht recht; aber im Ganzen genommen, dachte

sie, würde es eben so sicher sein, bei ihm zu bleiben, als dieser

grausamen Königin zu folgen, sie wartete also.

[Illustration]

Der Greif richtete sich auf und rieb sich die Augen: darauf sah er der

Königin nach, bis sie verschwunden war; dann schüttelte er sich. »Ein

köstlicher Spaß!« sagte der Greif, halb zu sich selbst, halb zu Alice.

»_Was_ ist ein Spaß?« fragte Alice.

»Sie,« sagte der Greif. »Es ist Alles ihre Einbildung, das: Niemand wird

niemals nicht hingerichtet. Komm schnell.«

»Jeder sagte hier, komm schnell,« dachte Alice, indem sie ihm langsam

nachging, »so viel bin ich in meinem Leben nicht hin und her kommandirt

worden, nein, in meinem ganzen Leben nicht!«

Sie brauchten nicht weit zu gehen, als sie schon die falsche Schildkröte

in der Entfernung sahen, wie sie einsam und traurig auf einem

Felsenriffe saß; und als sie näher kamen, hörte Alice sie seufzen, als

ob ihr das Herz brechen wollte. Sie bedauerte sie herzlich. »Was für

einen Kummer hat sie?« fragte sie den Greifen, und der Greif antwortete,

fast in denselben Worten wie zuvor: »Es ist Alles ihre Einbildung, das;

sie hat keinen Kummer nicht. Komm schnell.«

Sie gingen also an die falsche Schildkröte heran, die sie mit

thränenschweren Augen anblickte, aber nichts sagte.

»Die kleine Mamsell hier,« sprach der Greif, »sie sagt, sie möchte gern

deine Geschichte wissen, sagt sie.«

»Ich will sie ihr erzählen,« sprach die falsche Schildkröte mit tiefer,

hohler Stimme; »setzt euch beide her und sprecht kein Wort, bis ich

fertig bin.«

Gut, sie setzten sich hin und Keiner sprach mehre Minuten lang. Alice

dachte bei sich: »Ich begreife nicht, wie sie je fertig werden kann,

wenn sie nicht anfängt.« Aber sie wartete geduldig.

»Einst,« sagte die falsche Schildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer,

»war ich eine wirkliche Schildkröte.«

[Illustration]

Auf diese Worte folgte ein sehr langes Schweigen, nur hin und wieder

unterbrochen durch den Ausruf des Greifen »Hjckrrh!« und durch das

heftige Schluchzen der falschen Schildkröte. Alice wäre beinah

aufgestanden und hätte gesagt: »Danke sehr für die interessante

Geschichte!« aber sie konnte nicht umhin zu denken, daß doch noch etwas

kommen müsse; daher blieb sie sitzen und sagte nichts.

»Als wir klein waren,« sprach die falsche Schildkröte endlich weiter,

und zwar ruhiger, obgleich sie noch hin und wieder schluchzte, »gingen

wir zur Schule in der See. Die Lehrerin war eine alte Schildkröte -- wir

nannten sie Mamsell Schalthier --«

»Warum nanntet ihr sie Mamsell Schalthier?« fragte Alice.

»Sie _schalt hier_ oder sie schalt da alle Tage, darum,« sagte die falsche

Schildkröte ärgerlich; »du bist wirklich sehr dumm.«

»Du solltest dich schämen, eine so dumme Frage zu thun,« setzte der

Greif hinzu, und dann saßen beide und sahen schweigend die arme Alice

an, die in die Erde hätte sinken mögen. Endlich sagte der Greif zu der

falschen Schildkröte: »Fahr' zu, alte Kutsche! Laß uns nicht den ganzen

Tag warten!« Und sie fuhr in folgenden Worten fort:

»Ja, wir gingen zur Schule, in der See, ob ihr es glaubt oder nicht --«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht glaubte,« unterbrach sie Alice.

»Ja, das hast du,« sagte die falsche Schildkröte.

»Halt' den Mund!« fügte der Greif hinzu, ehe Alice antworten konnte. Die

falsche Schildkröte fuhr fort.

»Wir gingen in die allerbeste Schule; wir hatten vier und zwanzig

Stunden regelmäßig jeden Tag.«

»Das haben wir auf dem Lande auch,« sagte Alice, »darauf brauchst du dir

nicht so viel einzubilden.«

»Habt ihr auch Privatstunden außerdem?« fragte die falsche Schildkröte

etwas kleinlaut.

»Ja,« sagte Alice, »Französisch und Klavier.«

»Und Wäsche?« sagte die falsche Schildkröte.

»Ich dächte gar!« sagte Alice entrüstet.

»Ah! dann gehst du in keine wirklich gute Schule,« sagte die falsche

Schildkröte sehr beruhigt. »In unserer Schule stand immer am Ende der

Rechnung, »Französisch, Klavierspielen, Wäsche -- extra.«

»Das könnt ihr nicht sehr nöthig gehabt haben,« sagte Alice, »wenn ihr

auf dem Grunde des Meeres wohntet.«

»Ich konnte keine Privatstunden bezahlen,« sagte die falsche

Schildkröte mit einem Seufzer. »Ich nahm nur den regelmäßigen

Unterricht.«

»Und was war das?« fragte Alice.

»Legen und Treiben, natürlich, zu allererst,« erwiederte die falsche

Schildkröte; »und dann die vier Abtheilungen vom Rechnen: Zusehen,

Abziehen, Vervielfraßen und Stehlen.«

»Ich habe nie von Vervielfraßen gehört,« warf Alice ein. »Was ist das?«

Der Greif erhob beide Klauen voller Verwunderung. »Nie von Vervielfraßen

gehört!« rief er aus. »Du weißt, was Verhungern ist? vermuthe ich.«

»Ja,« sagte Alice unsicher, »es heißt -- nichts -- essen -- und davon --

sterben.«

»Nun,« fuhr der Greif fort, »wenn du nicht verstehst, was Vervielfraßen

ist, dann bist du ein Pinsel.«

Alice hatte allen Muth verloren, sich weiter danach zu erkundigen, und

wandte sich daher an die falsche Schildkröte mit der Frage: »Was hattet

ihr sonst noch zu lernen?«

»Nun, erstens Gewichte,« erwiederte die falsche Schildkröte, indem sie

die Gegenstände an den Pfoten aufzählte, »Gewichte, alte und neue, mit

Seeographie; dann Springen -- der Springelehrer war ein alter

Stockfisch, der ein Mal wöchentlich zu kommen pflegte, er lehrte uns

Pfoten Reiben und Unarten, meerschwimmig Springen, Schillern und

Imponiren.«

»Wie war denn das?« fragte Alice.

»Ich kann es dir nicht selbst zeigen,« sagte die falsche Schildkröte,

»ich bin zu steif. Und der Greif hat es nicht gelernt.«

»Hatte keine Zeit,« sagte der Greif; »ich hatte aber Stunden bei dem

Lehrer der alten Sprachen. Das war ein alter _Barsch_, ja, das war er.«

»Bei dem bin ich nicht gewesen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem

Seufzer, »er lehrte Zebräisch und Greifisch, sagten sie immer.«

»Das that er auch, das that er auch, und besonders Laßsein,« sagte der

Greif, indem er ebenfalls seufzte, worauf beide Thiere sich das Gesicht

mit den Pfoten bedeckten.

»Und wie viel Schüler wart ihr denn in einer Klasse?« sagte Alice, die

schnell auf einen andern Gegenstand kommen wollte.

»Zehn den ersten Tag,« sagte die falsche Schildkröte, »neun den

nächsten, und so fort.«

»Was für eine merkwürdige Einrichtung!« rief Alice aus.

»Das ist der Grund, warum man Lehrer hält, weil sie die Klasse von Tag

zu Tag leeren.«

Dies war ein ganz neuer Gedanke für Alice, welchen sie gründlich

überlegte, ehe sie wieder eine Bemerkung machte. »Den elften Tag müssen

dann Alle frei gehabt haben?«

»Natürlich!« sagte die falsche Schildkröte.

»Und wie wurde es den zwölften Tag gemacht?« fuhr Alice eifrig fort.

»Das ist genug von Stunden,« unterbrach der Greif sehr bestimmt:

»erzähle ihr jetzt etwas von den Spielen.«


Neuntes Kapitel Chapter Nine

Neuntes Kapitel.

Die Geschichte der falschen Schildkröte.

»Du kannst dir gar nicht denken, wie froh ich bin, dich wieder zu sehen,

du liebes altes Herz!« sagte die Herzogin, indem sie Alice liebevoll

unterfaßte, und beide zusammen fortspazierten.

Alice war sehr froh, sie bei so guter Laune zu finden, und dachte bei

sich, es wäre vielleicht nur der Pfeffer, der sie so böse gemacht habe,

als sie sich zuerst in der Küche trafen. »Wenn ich Herzogin bin,« sagte

sie für sich (doch nicht in sehr hoffnungsvollem Tone), »will ich gar

keinen Pfeffer in meiner Küche dulden. Suppe schmeckt sehr gut ohne --

Am Ende ist es immer Pfeffer, der die Leute heftig macht,« sprach sie

weiter, sehr glücklich, eine neue Art Regel erfunden zu haben, »und

Essig, der sie sauertöpfisch macht -- und Kamillenthee, der sie bitter

macht -- und Gerstenzucker und dergleichen, was Kinder zuckersüß macht.

Ich wünschte nur, die großen Leute wüßten das, dann würden sie nicht so

sparsam damit sein --«

Sie hatte unterdessen die Herzogin ganz vergessen und schrak förmlich

zusammen, als sie deren Stimme dicht an ihrem Ohre hörte. »Du denkst an

etwas, meine Liebe, und vergißt darüber zu sprechen. Ich kann dir diesen

Augenblick nicht sagen, was die Moral davon ist, aber es wird mir gleich

einfallen.«

»Vielleicht hat es keine,« hatte Alice den Muth zu sagen.

»Still, still, Kind!« sagte die Herzogin. »Alles hat seine Moral, wenn

man sie nur finden kann.« Dabei drängte sie sich dichter an Alice heran.

Alice mochte es durchaus nicht gern, daß sie ihr so nahe kam: erstens,

weil die Herzogin sehr häßlich war, und zweitens, weil sie gerade groß

genug war, um ihr Kinn auf Alice's Schulter zu stützen, und es war ein unangenehm spitzes Kinn. Da sie aber nicht gern unhöflich sein wollte,

so ertrug sie es, so gut sie konnte.

»Das Spiel ist jetzt besser im Gange,« sagte sie, um die Unterhaltung

fortzuführen.

[Illustration]

»So ist es,« sagte die Herzogin, »und die Moral davon ist -- Mit Liebe

und Gesange hält man die Welt im Gange!«

»Wer sagte denn,« flüsterte Alice, »es geschehe dadurch, daß Jeder vor

seiner Thüre fege.«

»Ah, sehr gut, das bedeutet ungefähr dasselbe,« sagte die Herzogin, und

indem sie ihr spitzes kleines Kinn in Alice's Schulter einbohrte, fügte sie hinzu »und die Moral _davon_ ist -- So viel Köpfe, so viel Sinne.«

»Wie gern sie die Moral von Allem findet!« dachte Alice bei sich.

»Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich meinen Arm nicht um deinen

Hals lege,« sagte die Herzogin nach einer Pause; »die Wahrheit zu

gestehen, ich traue der Laune deines Flamingos nicht ganz. Soll ich es

versuchen?«

»Er könnte beißen,« erwiderte Alice weislich, da sie sich keineswegs

danach sehnte, das Experiment zu versuchen.

»Sehr wahr,« sagte die Herzogin, »Flamingos und Senf beißen beide. Und

die Moral davon ist: Gleich und Gleich gesellt sich gern.«

»Aber der Flamingo ist ja ein Vogel und Senf ist kein Vogel,« wandte

Alice ein.

»Ganz recht, wie immer,« sagte die Herzogin, »wie deutlich du Alles

ausdrücken kannst.«

»Es ist, glaube ich, ein Mineral,« sagte Alice.

»Versteht sich,« sagte die Herzogin, die Allem, was Alice sagte,

beizustimmen schien, »in dem großen Senf-Bergwerk hier in der Gegend

sind ganz vorzüglich gute Minen. Und die Moral davon ist, daß wir gute

Miene zum bösen Spiel machen müssen.«

»O, ich weiß!« rief Alice aus, die die letzte Bemerkung ganz überhört

hatte, »es ist eine Pflanze. Es sieht nicht so aus, aber es ist eine.«

»Ich stimme dir vollkommen bei,« sagte die Herzogin, »und die Moral

davon ist: Sei was du zu scheinen wünschest! -- oder einfacher

ausgedrückt: Bilde dir nie ein verschieden von dem zu sein was Anderen

erscheint daß was du warest oder gewesen sein möchtest nicht verschieden

von dem war daß was du gewesen warest ihnen erschienen wäre als wäre es

verschieden.«

»Ich glaube, ich würde das besser verstehen,« sagte Alice sehr höflich,

»wenn ich es aufgeschrieben hätte; ich kann nicht ganz folgen, wenn Sie

es sagen.«

»Das ist noch gar nichts dagegen, was ich sagen könnte, wenn ich

wollte,« antwortete die Herzogin in selbstzufriedenem Tone.

»Bitte, bemühen Sie sich nicht, es noch länger zu sagen!« sagte Alice.

»O, sprich nicht von Mühe!« sagte die Herzogin, »ich will dir Alles, was

ich bis jetzt gesagt habe, schenken.«

»Eine wohlfeile Art Geschenke!« dachte Alice, »ich bin froh, daß man

nicht solche Geburtstagsgeschenke macht!« Aber sie getraute sich nicht,

es laut zu sagen.

»Wieder in Gedanken?« fragte die Herzogin und grub ihr spitzes kleines

Kinn tiefer ein.

»Ich habe das Recht, in Gedanken zu sein, wenn ich will,« sagte Alice

gereizt, denn die Unterhaltung fing an, ihr langweilig zu werden.

»Gerade so viel Recht,« sagte die Herzogin, »wie Ferkel zum Fliegen, und

die M --«

Aber, zu Alice's großem Erstaunen stockte hier die Stimme der Herzogin, und zwar mitten in ihrem Lieblingsworte »Moral«, und der Arm, der in dem

ihrigen ruhte, fing an zu zittern. Alice sah auf, und da stand die

Königin vor ihnen, mit über der Brust gekreuzten Armen, schwarzblickend

wie ein Gewitter.

»Ein schöner Tag, Majestät!« fing die Herzogin mit leiser schwacher

Stimme an.

»Ich will Sie schön gewarnt haben,« schrie die Königin und stampfte

dabei mit dem Fuße: »Fort augenblicklich, entweder mit Ihnen oder mit

Ihrem Kopfe! Wählen Sie!«

Die Herzogin wählte und verschwand eilig.

»Wir wollen weiter spielen,« sagte die Königin zu Alice, und diese, viel

zu erschrocken, ein Wort zu erwiedern, folgte ihr langsam nach dem

Croquet-Felde.

Die übrigen Gäste hatten die Abwesenheit der Königin benutzt, um im

Schatten auszuruhen; sobald sie sie jedoch kommen sahen, eilten sie

augenblicklich zum Spiele zurück, indem die Königin einfach bemerkte,

daß eine Minute Verzug ihnen das Leben kosten würde.

Die ganze Zeit, wo sie spielten, hörte die Königin nicht auf, mit den

andern Spielern zu zanken und zu schreien: »Schlagt ihm den Kopf ab!«

oder: »Schlagt ihr den Kopf ab!« Diejenigen, welche sie verurtheilt

hatte, wurden von den Soldaten in Verwahrsam geführt, die natürlich dann

aufhören mußten, die Bogen zu bilden, so daß nach ungefähr einer halben

Stunde keine Bogen mehr übrig waren, und alle Spieler, außer dem Könige,

der Königin und Alice, in Verwahrsam und zum Tode verurtheilt waren.

Da hörte die Königin, ganz außer Athem, auf, und sagte zu Alice: »Hast

du die _Falsche Schildkröte_ schon gesehen?«

»Nein,« sagte Alice. »Ich weiß nicht einmal, was eine _Falsche

Schildkröte_ ist.«

»Es ist das, woraus falsche Schildkrötensuppe gemacht wird,« sagte die

Königin.

»Ich habe weder eine gesehen, noch von einer gehört,« sagte Alice.

»Komm schnell,« sagte die Königin, »sie soll dir ihre Geschichte

erzählen.«

Als sie mit einander fortgingen, hörte Alice den König leise zu der

ganzen Versammlung sagen: »Ihr seid Alle begnadigt!« »Ach, das ist ein

Glück!« sagte sie für sich, denn sie war über die vielen Enthauptungen,

welche die Königin angeordnet hatte, ganz außer sich gewesen.

Sie kamen bald zu einem Greifen, der in der Sonne lag und schlief. (Wenn

ihr nicht wißt, was ein Greif ist, seht euch das Bild an.) »Auf, du

Faulpelz,« sagte die Königin, »und bringe dies kleine Fräulein zu der

falschen Schildkröte, sie möchte gern ihre Geschichte hören. Ich muß

zurück und nach einigen Hinrichtungen sehen, die ich angeordnet habe;«

damit ging sie fort und ließ Alice mit dem Greifen allein. Der Anblick

des Thieres gefiel Alice nicht recht; aber im Ganzen genommen, dachte

sie, würde es eben so sicher sein, bei ihm zu bleiben, als dieser

grausamen Königin zu folgen, sie wartete also.

[Illustration]

Der Greif richtete sich auf und rieb sich die Augen: darauf sah er der

Königin nach, bis sie verschwunden war; dann schüttelte er sich. »Ein

köstlicher Spaß!« sagte der Greif, halb zu sich selbst, halb zu Alice.

»_Was_ ist ein Spaß?« fragte Alice.

»Sie,« sagte der Greif. »Es ist Alles ihre Einbildung, das: Niemand wird

niemals nicht hingerichtet. Komm schnell.«

»Jeder sagte hier, komm schnell,« dachte Alice, indem sie ihm langsam

nachging, »so viel bin ich in meinem Leben nicht hin und her kommandirt

worden, nein, in meinem ganzen Leben nicht!«

Sie brauchten nicht weit zu gehen, als sie schon die falsche Schildkröte

in der Entfernung sahen, wie sie einsam und traurig auf einem

Felsenriffe saß; und als sie näher kamen, hörte Alice sie seufzen, als

ob ihr das Herz brechen wollte. Sie bedauerte sie herzlich. »Was für

einen Kummer hat sie?« fragte sie den Greifen, und der Greif antwortete,

fast in denselben Worten wie zuvor: »Es ist Alles ihre Einbildung, das;

sie hat keinen Kummer nicht. Komm schnell.«

Sie gingen also an die falsche Schildkröte heran, die sie mit

thränenschweren Augen anblickte, aber nichts sagte.

»Die kleine Mamsell hier,« sprach der Greif, »sie sagt, sie möchte gern

deine Geschichte wissen, sagt sie.«

»Ich will sie ihr erzählen,« sprach die falsche Schildkröte mit tiefer,

hohler Stimme; »setzt euch beide her und sprecht kein Wort, bis ich

fertig bin.«

Gut, sie setzten sich hin und Keiner sprach mehre Minuten lang. Alice

dachte bei sich: »Ich begreife nicht, wie sie je fertig werden kann,

wenn sie nicht anfängt.« Aber sie wartete geduldig.

»Einst,« sagte die falsche Schildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer,

»war ich eine wirkliche Schildkröte.«

[Illustration]

Auf diese Worte folgte ein sehr langes Schweigen, nur hin und wieder

unterbrochen durch den Ausruf des Greifen »Hjckrrh!« und durch das

heftige Schluchzen der falschen Schildkröte. Alice wäre beinah

aufgestanden und hätte gesagt: »Danke sehr für die interessante

Geschichte!« aber sie konnte nicht umhin zu denken, daß doch noch etwas

kommen müsse; daher blieb sie sitzen und sagte nichts.

»Als wir klein waren,« sprach die falsche Schildkröte endlich weiter,

und zwar ruhiger, obgleich sie noch hin und wieder schluchzte, »gingen

wir zur Schule in der See. Die Lehrerin war eine alte Schildkröte -- wir

nannten sie Mamsell Schalthier --«

»Warum nanntet ihr sie Mamsell Schalthier?« fragte Alice.

»Sie _schalt hier_ oder sie schalt da alle Tage, darum,« sagte die falsche

Schildkröte ärgerlich; »du bist wirklich sehr dumm.«

»Du solltest dich schämen, eine so dumme Frage zu thun,« setzte der

Greif hinzu, und dann saßen beide und sahen schweigend die arme Alice

an, die in die Erde hätte sinken mögen. Endlich sagte der Greif zu der

falschen Schildkröte: »Fahr' zu, alte Kutsche! Laß uns nicht den ganzen

Tag warten!« Und sie fuhr in folgenden Worten fort:

»Ja, wir gingen zur Schule, in der See, ob ihr es glaubt oder nicht --«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht glaubte,« unterbrach sie Alice.

»Ja, das hast du,« sagte die falsche Schildkröte.

»Halt' den Mund!« fügte der Greif hinzu, ehe Alice antworten konnte. Die

falsche Schildkröte fuhr fort.

»Wir gingen in die allerbeste Schule; wir hatten vier und zwanzig

Stunden regelmäßig jeden Tag.«

»Das haben wir auf dem Lande auch,« sagte Alice, »darauf brauchst du dir

nicht so viel einzubilden.«

»Habt ihr auch Privatstunden außerdem?« fragte die falsche Schildkröte

etwas kleinlaut.

»Ja,« sagte Alice, »Französisch und Klavier.«

»Und Wäsche?« sagte die falsche Schildkröte.

»Ich dächte gar!« sagte Alice entrüstet.

»Ah! dann gehst du in keine wirklich gute Schule,« sagte die falsche

Schildkröte sehr beruhigt. »In unserer Schule stand immer am Ende der

Rechnung, »Französisch, Klavierspielen, Wäsche -- extra.«

»Das könnt ihr nicht sehr nöthig gehabt haben,« sagte Alice, »wenn ihr

auf dem Grunde des Meeres wohntet.«

»Ich konnte keine Privatstunden bezahlen,« sagte die falsche

Schildkröte mit einem Seufzer. »Ich nahm nur den regelmäßigen

Unterricht.«

»Und was war das?« fragte Alice.

»Legen und Treiben, natürlich, zu allererst,« erwiederte die falsche

Schildkröte; »und dann die vier Abtheilungen vom Rechnen: Zusehen,

Abziehen, Vervielfraßen und Stehlen.«

»Ich habe nie von Vervielfraßen gehört,« warf Alice ein. »Was ist das?«

Der Greif erhob beide Klauen voller Verwunderung. »Nie von Vervielfraßen

gehört!« rief er aus. »Du weißt, was Verhungern ist? vermuthe ich.«

»Ja,« sagte Alice unsicher, »es heißt -- nichts -- essen -- und davon --

sterben.«

»Nun,« fuhr der Greif fort, »wenn du nicht verstehst, was Vervielfraßen

ist, dann bist du ein Pinsel.«

Alice hatte allen Muth verloren, sich weiter danach zu erkundigen, und

wandte sich daher an die falsche Schildkröte mit der Frage: »Was hattet

ihr sonst noch zu lernen?«

»Nun, erstens Gewichte,« erwiederte die falsche Schildkröte, indem sie

die Gegenstände an den Pfoten aufzählte, »Gewichte, alte und neue, mit

Seeographie; dann Springen -- der Springelehrer war ein alter

Stockfisch, der ein Mal wöchentlich zu kommen pflegte, er lehrte uns

Pfoten Reiben und Unarten, meerschwimmig Springen, Schillern und

Imponiren.«

»Wie war denn das?« fragte Alice.

»Ich kann es dir nicht selbst zeigen,« sagte die falsche Schildkröte,

»ich bin zu steif. Und der Greif hat es nicht gelernt.«

»Hatte keine Zeit,« sagte der Greif; »ich hatte aber Stunden bei dem

Lehrer der alten Sprachen. Das war ein alter _Barsch_, ja, das war er.«

»Bei dem bin ich nicht gewesen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem

Seufzer, »er lehrte Zebräisch und Greifisch, sagten sie immer.«

»Das that er auch, das that er auch, und besonders Laßsein,« sagte der

Greif, indem er ebenfalls seufzte, worauf beide Thiere sich das Gesicht

mit den Pfoten bedeckten.

»Und wie viel Schüler wart ihr denn in einer Klasse?« sagte Alice, die

schnell auf einen andern Gegenstand kommen wollte.

»Zehn den ersten Tag,« sagte die falsche Schildkröte, »neun den

nächsten, und so fort.«

»Was für eine merkwürdige Einrichtung!« rief Alice aus.

»Das ist der Grund, warum man Lehrer hält, weil sie die Klasse von Tag

zu Tag leeren.«

Dies war ein ganz neuer Gedanke für Alice, welchen sie gründlich

überlegte, ehe sie wieder eine Bemerkung machte. »Den elften Tag müssen

dann Alle frei gehabt haben?«

»Natürlich!« sagte die falsche Schildkröte.

»Und wie wurde es den zwölften Tag gemacht?« fuhr Alice eifrig fort.

»Das ist genug von Stunden,« unterbrach der Greif sehr bestimmt:

»erzähle ihr jetzt etwas von den Spielen.«